■ Filmstarts à la carte: Vogelköpfiger Rächer und falsches Kindermädchen
Die sich langsam öffnende Kreisblende verdeutlicht die Absicht des Regisseurs gleich zu Beginn: Sein Film ist eine Hommage an die Frühzeit des Kinos.
1963 erweckte Georges Franju, ein Mitbegründer der Cinémathèque Francaise, eine Figur zu neuem Leben, mit deren Abenteuern der Filmpionier Louis Feuillade das französische Publikum bereits während des Ersten Weltkrieges in Atem gehalten hatte: „Judex“, der Rächer mit dem schwarzen Cape – ein für die Gerechtigkeit kämpfender Mysterioso, stets bereit, den geschundenen Witwen und Waisen dieser Welt im Kampf gegen vor nichts zurückschreckende Verbrecher zur Seite zu stehen.
Daß Feuillade seinerzeit eher an fantasievollem Spektakel als an logischen Handlungsabläufen interessiert war, brachte ihm sowohl die Bewunderung der Surrealisten als auch der Cineasten Franju und Alain Resnais ein, die in seinen Filmen jene poetisch- anarchische Qualität entdeckten, die sie mit ihren eigenen Werken dem Kino zurückzugeben gedachten.
Franju verzichtete in seinem „Judex“ auf alle nur erklärenden Momente und setzt allein auf die Kraft und Poesie der Magie: In einem der großen surrealen Augenblicke des Kinos schwenkt die Kamera langsam an einem Herren in eleganter Abendgarderobe hoch – schockierenderweise besitzt er einen Vogelkopf. Wie sich kurze Zeit später herausstellt, ist es der geheimnisvolle Rächer selbst, der als Zauberkünstler auf einem Maskenball eine tote Taube wieder zum Leben erweckt. Da vermag es dann auch nicht mehr zu verwundern, wenn ein vermeintlich verstorbener verbrecherischer Bankier plötzlich seine Auferstehung in Judex' Kerker erfährt.
Kaum eine Figur ist, was sie scheint: Im Spiel der Masken und Verkleidungen entpuppt sich das Kindermädchen als abgefeimte Mörderin, die gern im hautengen schwarzen Trikot auf nächtlichen Dächern herumklettert, und auch der alte, gebeugte Sekretär des Bankiers hat einen etwas zu gewaltigen Bart, als das sich dahinter nicht ein anderer verbergen sollte.
Daß Science Fiction nicht unbedingt mit Raumschiffen und außerirdischen Monstern handelen muß, beweist Jean Luc Godard in seinem Film Alphaville“: Die vom Computer Alpha 60 beherrschte Zukunftswelt, in der eine Diktatur der Logik an die Stelle von Liebe und Poesie getreten ist, filmten der Regisseur und sein Kameramann Raoul Coutard im nächtlichen Paris des Jahres 1965.
So wird beispielsweise das damals ultramoderne Esso-Verwaltungsgebäude im Viertel La Defense mit seiner Glas- und Stahlarchitektur zur Zentrale der Macht umfunktioniert und ein irreal beleuchtetes Hallenbad dient als Schauplatz für eine Massenexekution: Die Zukunftsvision entsteht durch die Verfremdung der Realität.
Und der Supercomputer, den der von Eddie Constantine verkörperte Geheimagent Lemmy Caution bekämpft, ist nach Aussage von Jean Luc Godard nichts anderes als ein „Philips-Ventilator für drei Dollar, von unten angeleuchtet“ und fotografiert durch das Gitter eines Lüftungsschachtes.
Lars Penning
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen