■ Filmstarts à la carte: Krasser Realismus
Am Anfang steht ein Filmende. Verzweifelt kämpfen zwei Männer auf dem Dach eines dahinrasenden Zuges miteinander. Schüsse peitschen durch die Nacht – gemeinsam stürzen die Kontrahenten in einen gähnenden Abgrund. Dem unbedarften Zuschauer mag dies wie ein Ausschnitt aus einem rasanten Actionfilm vorkommen, doch Filmregisseur Sullivan weiß das Werk seines ungenannten Kollegen anders zu interpretieren: „Habt Ihr die Symbolik erkannt? Kapital und Arbeit vernichten sich gegenseitig!“ Künftig werde auch er in seinen Filmen derart gewichtige soziale Aussagen treffen und ein wahres Bild vom Elend der Menschen zeigen. „Krassester Realismus“ lautet die neue Devise. Doch leider hat Musicalregisseur Sullivan von der Armut überhaupt keine Ahnung und beschließt deshalb einen Selbstversuch: In der Kleidung eines tramps und mit nur zehn Cents in der Tasche auf Walze gehen – da werde er das Elend schon kennenlernen.
So beginnen Sullivans Reisen“ – und mit ihnen eine der besten Komödien des Autors und Regisseurs Preston Sturges. Mit bitterem Spott mokiert sich Sturges über Sozialkitsch à la Hollywood: Nachdem er sich gerade noch vom Kammerdiener in die pittoresk vergammelte Jacke hat helfen lassen, zieht Sullivan los – gefolgt von einem Bus mit Sekretärin, Arzt, Koch und einem PR- menschen, der die Story im Auftrag der Produzenten werbeträchtig ausschlachten soll. Immer wieder wird sich der naive Regisseur genötigt sehen, seine Helfer in Anspruch zu nehmen – mit den entsprechenden Ressourcen im Hintergrund läßt sich die „Armut“ natürlich gut aushalten. Doch als er dann zufällig wirklich ins Elend gerät, muß er überrascht feststellen, daß die Menschen vom Kino eigentlich nur ein wenig Ablenkung und Unterhaltung erwarten, denn: „Die Armen wissen schon alles über die Armut.“
Natürlich ist „Sullivans Reisen“ eine dreiste Apologie des Wirkens der Traumfabrik Hollywood – die komödiantische Verpackung wirkt indes noch heute so unwiderstehlich wie die zauberhafte Hauptdarstellerin Veronica Lake, die mit ihrem trockenen Humor Joel McCreas Sullivan eine durchaus ebenbürtige Partnerin ist.
Es ist ein wenig wie in den Filmen von Jean-Pierre Melville – nur bunter: Wortkarge Männer mit großen Pistolen wandern durch urbane, extrem stilisierte Landschaften, träumen von Freundschaften und Loyalität und werden am Ende doch verraten. Seijun Suzukis Gangsterballade „Tokyo Nagaremono“ aus dem Jahr 1966 erzählt von Bars mit pinkfarbenen Wänden, riesigen Straßenkreuzern und Schurken mit coolen Sonnebrillen.
Und von einem Helden, der – einsam durch den leise rieselnden Schnee stapfend – lieber die traurige Ballade vom Tokio-Vagabunden singt, als sich an den Abschlachtritualen seiner ehemaligen Yakuza-Brüder zu beteiligen.
Zu bestaunen gibt es das alles in der Reihe „Neues japanisches Kino“ im Eiszeit, am 25. und 27.12. gar im Doppelprogramm mit dem zwei Jahre zuvor entstandenen Werk „Zuflucht der Sirenen“ (klingt irgendwie vielversprechend) des gleichen Regisseurs.
Lars Penning
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