■ Filmstarts à la carte: Nur eine Nummer
Noch kurz vor ihrem Tod im biblichen Alter trauerte die 1896 geborene Schauaspielerin Lillian Gish dem Stummfilm hinterher: der sei eine univereslle völkerverbindende Ausdrucksform gewesen, schließlich habe man nur die Zwischentitel übersetzen müssen, um überall in der Welt verstanden zu werden. Tatsächlich zerstörte die Einführung des Tonfilms Ende der zwanziger Jahre eine Kunstform in Hochblüte. Die Bildmacht und Brillianz, mit der sich Koryphäen wie Murnau, Lang und Stroheim auch ohne Worte auszudrücken verstanden, sollten auf Jahre hinaus nicht wieder erreicht werden. Zu den großen Klassikern des Stummfilms kann auch „The Crowd“ gezählt werden, den King Vidor 1928 für die MGM inszenierte: „Von diesem jungen Mann wird die Welt noch hören“, verkündet da ein stolzer Vater bei der Geburt seines Sohnes und befindet sich in einem fatalen Irrtum. Denn John Sims (James Murray) bleibt ein Mensch der Masse, der sich zeitlebens mit banalen Alltagsproblemen herumschlägt: Ehestreitigkeiten, Arbeitsplatzverlust und zu wenig Geld. Andeuten wird Vidor das bereits in einer Sequenz, die Sims an seinem Arbeitsplatz einführt: dem Gesindel der Straßen New Yorks entrinnend, schwenkt die Kamera an einem Wolkenkratzer hoch – nur um in einem monströsen und überfüllten Großraumbrüo zu landen, in dem auch das vermeintliche Wunderkind seinen Schriebtisch besitzt. Auf einem Namensschild läßt sich eine Ziffer erkennen: Im Büro ist Sims die Nummer 137.
Vom Kunstvollen zum Trivialen: Vor Jahresfrist inszenierte Tim Burton – der Hohepriester des schlechten Geschmacks unserer Tage – in Anlehnung an die Monsterfilme der Fünfziger mit „Mars Attacks!“ eine frenetische Satire auf Endzeit-Science-Fiction und Medienrummel. Am schönsten sind die Episoden mit Jack Nicholson als schleimigen amerikanischen Präsidenten und Glenn Close in der Rolle seiner auf Repräsentation bedachten Gattin (die dann durch den Absturz des Nancy-Reagan-Gedächtnis-Kronleuchters dahingerafft wird) – aber auch die Außerirdischen sind durchweg witzig, weil endlich einmal klein, grün und herrlich boßhaft. Und ihre fatale Allergie gegen volkstümliche Klänge macht sie nur noch sympathischer.
An seiner Person hat sich Burton auch schon einmal in Form eines biografischen Spielfilms abgearbeitet: Kultfilmer Edward Wood jr., dessen Produktion „Plan 9 from Outer Space“ als schlechtester Film aller Zeiten in die Geschichte einging. Kaum besser, aber ungleich persönlicher erscheint da „Glen oder Gelnda?“ (1953), der von den Problemen eines Transvestiten in der prüden amerikanischen Gesellschaft der fünfziger Jahre erzählt. Daß der Regisseur in der Hauptrolle reüssiert, macht durchaus Sinn – denn gleich seiner Hauptfigur schwärmte auch Wood für Frauenkleider, wobei insbesondere seine Liebe zu flauschigen Angorapullovern nicht zu übersehen war. Das Ergebis seiner filmischen Bemühungen kann man eigentlich nur hartgesottenen Trash-Fans ans Herz legen – und doch ist es letztlich ein tröstlicher Gedanke, daß es selbst in einer so stark von kommerziellen Zwängen geprägten Branche wie der Filmindustrie möglich war, allein mit mit unbeschreiblichem Enthusiasmus ohne Geld und ohne Talent ein durch und durch persönliches Projekt auf die Beine zu stellen.
Lars Penning
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