Filmstarts à la carte: Komische Melodramen
■ Es gibt: eine Mutter, deren Sohn bei dem Versuch überfahren wird, ein Autogramm von einer alternden Schauspielerin zu ergattern, die sich vor allem um ihre Beziehung zu einem drogensüchtigen Mädchen sorgt. Und einen Vater, der unterdessen als todkranker Transvestit eine Nonne geschwängert hat, die nun ihrerseits an AIDS stirbt und gepflegt wird von der Mutter des überfahrenen Jungen, die aber erst noch der Schauspielerin eine nette Ex- Prostituierte, um die sich zuvor die Nonne gekümmert hat, als Gardobiere vermittelt. Man sieht: Es sind nicht unbedingt die einfachsten Beziehungen, die Pedro Almodóvar den Figuren in „Alles über meine Mutter“ (1999) zumutet. Und doch gelingt es dem spanischen Regisseur mit der genialen Frisur, bei seinem immer ein wenig ironisch angehauchten Spiel mit den Genregesetzen des Melodrams den exzentrischen, gestrandeten, lebens- und liebessüchtigen Charakteren so nahe zu kommen, dass ein anrührendes menschliches Drama von großer Kraft entsteht. Standen in Almodóvars Frühwerk die meisten Personen nur allzu oft am Rande des Nervenzusammenbruchs, so zeichnete sich bereits in „Live Flesh - Mit Haut und Haar“ (1997) die Tendenz ab, die Hysterie zugunsten der Glaubwürdigkeit der Charaktere etwas zurückzunehmen. Dabei ist auch dieses verwickelte Melodram um eine Amour fou keineswegs frei von Almodóvars schwarzem Humor: Von der Frühgeburt im Autobus über Rauschgiftsucht und Querschnittslähmung - allem und jedem kann der Maestro in der ebenso amourösen wie kriminellen Story um den naiven Dummschwätzer Victor, die schöne Elena und die Polizisten David und Sancho noch eine groteske Seite abgewinnen. Almodóvars kurz vor der Lachschwelle angesiedelte Melos sind in einer Retrospektive im Checkpoint-Kino zu sehen.
Almodóvar-Retro im Checkpoint: u.a. „Live Flesh“ 22.6.-25.6., „Alles über meine Mutter“ 22.6.-25.6. im Checkpoint, 22.6.-28.6. im Bundesplatz- Studio
■ Drei der bedeutendsten deutschen Stummfilme laufen an aneinanderfolgenden Abenden im Arsenal: Nominell spielen in Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) zwar Werner Krauss und Conrad Veidt die Hauptrollen, doch das eigentlich Sensationelle an der Produktion aus dem Jahr 1920 waren die expressionistischen Bauten und Dekorationen der Maler und Architekten Walter Reimann, Hermann Warm und Walter Röhrig. Erstmals wurde der Realismus vollständig zugunsten einer Stilisierung aufgegeben, die den Wahn der Filmcharaktere in Dekors voller schiefer Ebenen, gemalter Schatten und merkwürdiger Symbole verdeutlicht. Nicht weniger wichtig sind Hans Poelzigs Bauten in „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (1920) von Paul Wegener und Carl Boese: Die Geschichte von der Erschaffung eines künstlichen Wesens aus Lehm, das den Juden von Prag im Mittelalter gegen die Bedrohung durch einen eitlen Kaiser helfen soll, spielt in einem faszinierend gestalteten Ghetto mit steil aufragenden, schiefen Häusern und schmalen Gässchen. Ebenso einflußreich: „Nosferatu“ (1921) von F.W. Murnau, der mit seiner unautorisierten Dracula-Verfilmung den wohl ersten echten Horrorfilm der gesamten Kinogeschichte drehte. Dass der unheimliche Graf dabei von einem Darsteller namens Max Schreck verkörpert wird, trifft sich gut.
„Das Cabinet des Dr. Caligari“25.6.; „Der Golem, wie er in die Welt kam“ 27.6.; „Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens“ 28.6. im Arsenal
■ Am Sonnabend wird er 70 Jahre alt: Claude Chabrol, französischer Ex-Kritiker und Filmemacher, der stets dem diskreten Charme der Bourgeoisie auf der Spur ist. Das Filmmuseum Potsdam feiert mit „Biester“: Da geht es einer Fabrikantenfamilie in der Provinz an den Kragen, als sie den bislang sorgsam verborgenen Analphabetismus ihrer Haushälterin entdeckt...
„Biester“ 22.6., 24.6.-25.6. im Filmmuseum Potsdam
Lars Penning
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