Filmstart „Gold“: Weiter, weiter, das ist das Ziel
Ein beschwerlicher Treck: In „Gold“ reduziert der Berliner Regisseur Thomas Arslan das Western-Genre auf sein Skelett.
Ein Zug trifft ein. In Ashcroft, einem Provinznest mit dem nördlichsten Bahnhof Kanadas. Es ist der Sommer 1898, die Zeit des Klondike-Goldrausches. Heraus steigt eine dunkel zugeknöpfte Frau. Ihren Hut trägt sie wie einen Stahlhelm, ihre Schritte sind die einer Gewappneten, ihre Augen weit und wachsam über einem Mund, den eine glücklose Vergangenheit beschwert.
Nina Hoss ist schon mehrfach so statuarisch aus dem Zug gestiegen. Vielleicht am einprägsamsten in Christian Petzolds „Yella“ (2007), in dem sie eine surreale Welt aus verführerischer Geschäftigkeit und leerem Spuk betritt. Doch einzelner als diese Emily Meyer kann die Einzelne kaum sein.
Auf sich gestellt in der Fremde, in einem Männertreck, der wechselweise von erbärmlichen Betrügern oder eitlen Rechthabern angeführt wird. Als deutsche Protagonistin in einem Western, der nicht etwa in den Kulissen Bad Segebergs spielt, sondern in den Wäldern und Bergen Kanadas mit ihrer monströsen Stille und kaum noch irdischen Unendlichkeit.
Emily Meyer, eine weibliche Loner- und Pioniersfigur mit Migrationshintergrund. Eine „Dutchman“, wie man die deutschen Auswanderer auf dem nordamerikanischen Kontinent so ignorant wie unbeholfen nannte. All das macht aus ihr eine gleich multiple Symbolfigur. Berliner Schule goes west. Was für ein waghalsiges Unterfangen!
1.500 Meilen auf dem Pferd
Diese Emily Meyer hat lange vor Einsetzen der Filmhandlung beschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht von den Kerlen, mit denen sie zum im unzugänglichen Norden vermuteten Gold aufbricht. Nicht von den Anstrengungen und schon gar nicht von den eigenen Zweifeln. 1.500 Meilen mit Pferd und Planwagen durch die Wildnis, bis zu den Goldfeldern. Was sie hinter sich hat – als Hausangestellte, als Ehefrau –, muss schlimmer gewesen sein. Sie zieht weiter. Allen Warnungen der Trapper, der Indianer, denen der Trupp begegnet, der Kleinstädter, in deren Pensionen sie Rast machen, zum Trotz.
Schon bald gibt es die genreüblichen Komplikationen. Die mitgenommenen Landkarten führen in die Irre, ein Baum stürzt um, ein Rad bricht, ein Fluss lässt sich nicht queren. Am Anfang sucht Emily noch ein Schutzbündnis mit dem Pferdeknecht Carl Boehmer (Marko Mandic), einem osteuropäischen Auswanderer. Doch der hält ihre Zuwendung für Mitleid. Das Tauschgeschäft – männlicher Personenschutz gegen weibliche Beachtung – kommt nicht zustande. Eine Liebesgeschichte ereignet sich trotzdem. So zurückgenommen und karg erzählt, dass man ihren Anfang kaum erkennen kann.
Die wirklich genrebildenden Episoden präsentiert Arslan stur nacheinander und legt auf diese Weise die innere Mechanik eines Big-Trail-Films frei. Betrug, Verrat, Schießereien und Wundbrand. Ein Bein muss ab. Und Emily krempelt die Ärmel hoch, wie es die handfesten, großen Frauen auf diesem Terrain wie Barbara Stanwyck, Joan Crawford oder auch Katharine Hepburn vor ihr getan haben.
Riese aus Dampf und Eisen
Wenn im Ashcrofter Bahnhof ein Riese aus Dampf und Eisen ächzend zum Stehen kommt, ist man nicht nur gleich in all den typischen Anfangssequenzen der Frontierfilme, sondern immer auch in der Urszene der Kinogeschichte selbst. Ganz so, als stelle Arslan noch einmal alles auf null. Auch die Kamera, geführt vom so oft schon bewährtem Patrick Orth, tut die meiste Zeit so, als sehe das Kinoauge das alles zum ersten Mal.
Die übergroße Natur, die Horizontlinie, die umso ferner flirrt, je länger der Korso sich auf sie zuarbeitet. Die Arbeit, die das Reiten, die Pferdepflege, die Nahrungsbeschaffung und das Überleben selbst machen. Der Dreck, der sich über die ausgezehrten Gesichter legt, und die Angst, die eigene Hoffnung könnte auf den Schienen eines fatalen Irrtums landen. Dazu die Akkorde von Dylan Carlson, so rau und morbide, dass man unweigerlich an Neil Youngs minimalistische Slide-Gitarre in Jarmuschs „Dead Man“ denken muss.
Orth hat weitgehend ohne künstliches Licht gedreht und damit sehr nah an den Möglichkeiten der Landschaftsfotografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das macht seine Bilder so naturalistisch und physisch. Brennweiten und Einstellungsgrößen lassen mit ihrer bewussten visuellen Distanz den Dingen und Menschen Platz für einen eigenen, mythischen Raum. Und den braucht es unbedingt, wenn man in einem so fremden, aber auch so totgerittenem Genre wie dem Western eigene Spuren hinterlassen will.
Weg von einem viel zu engen Deutschland
Bedeutet eine Zugankunft im Western nicht immer einen Neuanfang, sondern oft Rache oder auch, abstrakter, die industrielle Inbesitznahme des Fremden, geht es in Arslans „Gold“ konsequent um eine soziokulturelle Gegenbewegung. Weg von einem viel zu engen Deutschland, aber auch weg von den Vereinigten Staaten, die ihr Versprechen individuell erfüllten Glücks noch schuldig geblieben sind. Weg von allen zivilisatorischen Fahrplänen in einen herbeigesehnten Urstand freier, womöglich auch emanzipierterer Optionen.
Arslan und seinem Ensemble ist es verdammt ernst mit dem Western. Kein Mash-up, kein ironisches Zerrbild. Der Berliner Regisseur wird selbst zum Fremden, der das Reiten, das Reden, das Schießen bewusst nachstellt. Dabei erlernt er die Regeln des Cowboyfilms nicht nur, sondern erfindet und versteht sie auch neu. Als Genre-Greenhorn gelingt es ihm vielleicht umso überzeugender, etwas vom Ureigentlichen dieser Filmgattung zu erzählen. Nämlich von Migration, Anpassung und Isolation. Von der soziokulturellen Wendeseite eines Traumes.
Thomas Arslan, 1962 in Braunschweig geboren, wird neben Christian Petzold, Angela Schanelec, Henner Winckler und inzwischen auch etlichen anderen zu jener losen Gruppe von Autorenfilmern gezählt, die den Namen „Berliner Schule“ trägt. Angefangen hat er mit der Beobachtung deutsch-türkischer Alltäglichkeiten. Er war der erste Filmemacher, der in Subjektiven vom Leben Kreuzberger Jugendlicher erzählte, der sich ihrer Wirklichkeit annäherte, indem er auch den noch so banalsten Verrichtungen eine filmische Form gab.
Nach „Geschwister – Kardesler“ (1996/1997), Dealer (1999) und „Der schöne Tag“ (2001) studierte er schließlich mit ornithologischem Interesse in „Ferien“ (2007) die Missverständnisse zwischen saturierten Bildungsbürgern und ihren strauchelnden Kindern.
„Gold“ ist nicht Arslans erster Ausflug ins Genre-Kino. Bereits in „Im Schatten“ (2009) wagte er sich auf das klar abgesteckte Feld des Film noir mit seinen zeichenhaften Männlichkeitsritualen und seinen dramaturgischen Kausalketten: Planung eines Überfalls, Durchführung, Beuteverlust, Verrat, Verführung, Scheitern. Und nur selten hat das Kino in Deutschland einen Helden von so erlesener Einsamkeit wie den wortkargen Exhäftling Trojan (Misel Maticevic) gesehen. Selbstverständlich und elegant gleitet er durch die finstere Hoffnungslosigkeit des Genres, als hätte es vor ihm noch keine eiskalten Engel gegeben.
Das Schlussbild gehört Emily
Auch Emily Meyer wird ganz das Schlussbild gehören. Zwar reitet in der Logik des Westerns am Ende der Kerl nach allen für die Freiheit geschlagenen Schlachten zumeist der Sonne entgegen und in irgendeiner Form doch immer nach Hause. Doch Arslans Heldin nimmt keinen Heimatkurs. Auch als allein Übriggebliebene folgt sie einem sich selbst anfeuernden „Weiter“. So befreiend wie ungewiss. Das ist groß und auch ohne alle ästhetische Überhöhung auratisch.
„Gold“, der deutsche Wettbewerbsbeitrag der diesjährigen Berlinale, musste einiges an Kritik, an Häme und noch viel mehr an Missverständnissen aushalten. Zu absehbar sei der schmale Plot, zu kühl die Figuren, zu fern bleibe deren Sehnsucht. Das waren Erwartungen, die an Arslans Kino, das seit seinen Anfängen primär mit Räumen und Bewegungen und nicht via Close-up und Dialog von komplexen Lebenswirklichkeiten erzählt, komplett vorbeizielten.
Wie auch immer man die bis aufs Skelett abgespeckte Handlung, die nur schraffierte Figurenentwicklung und den buchstäblich mit-treckenden stoischen Erzählrhythmus im Einzelnen bewerten will (auch in der umgeschnittenen Fassung, die jetzt in die Kinos kommt) – um eines wird auch der genervteste Rezensent nicht herumkommen: Arslan hat mit „Gold“ dem deutschen Film einen weltweitenden Blick geschenkt.
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