Filmfestspiele in Venedig – Lidokino Teil 4: Bestens verkalkte Hauptdarsteller
Der italienische Wettbewerbsbeitrag „Leisure Seeker“ von Paolo Virzì ist eine schöne Komödie über die Komplikationen der Liebe im Alter.
Beim Film kommt die Musik meistens etwas zu kurz. Nicht im Film selbst, dafür in der Filmkritik. Oft sind die Klänge den Bildern ja auch untergeordnet, was gleichwohl kein Grund ist, sie zu unterschlagen. Gute Idee, sich mal einen dieser Filmmusikkomponisten genauer anzusehen, im Film. Geeignet dafür ist „Ryuichi Sakamoto: Coda“, ein Dokumentarfilm von Stephen Nomura Schible.
Der Japaner, der Komposition studierte und mit dem Synthiepop-Trio Yellow Magic Orchestra berühmt wurde, hat vor allem mit seinen Soundtracks zu „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ (1983) und „Der letzte Kaiser“ (1987) größere Bekanntheit erlangt. Im Film bekommt man seinen Werdegang in Erinnerungen erzählt, unterlegt mit Archivmaterial.
Vor allem aber bekommt man die jüngere Vergangenheit in Sakamotos Leben geschildert. Wie er sich nach Fukushima bei den Antiatomprotesten engagierte. Wie er eine Krebserkrankung überstand. Wie er am Soundtrack zu Alejandro González Iñárritus „The Revenant“ (2015) und an seinem jüngsten Soloalbum „async“ arbeitete. Das ist im Detail nicht immer spannend und als Film nur zum Teil geglückt, läuft daher wohlweislich außer Konkurrenz.
Dennoch: Sakamoto bei der Arbeit zuzusehen und über seine Musik sprechen zu hören, gibt den einen oder anderen Einblick in seine Klangwelt, in der zarte Melodien und spröde Geräusche sich zu erweiterten Harmonien verbinden. Macht allemal Lust auf seine Musik.
Auf Reisen im Wohnmobil
Harmonisch, im Großen und Ganzen, geht es auch in der Ehe von Ella und John Spencer zu. Das Paar, gespielt von den grauen britischen Eminenzen Helen Mirren und Donald Sutherland, ist der Besetzung entsprechend betagt und hat mit der Gesundheit zu kämpfen. Er mit dem Gedächtnis, sie hat andere Probleme.
Obwohl John in ein Altenheim soll, gehen die beiden noch einmal – ohne den Kindern vorher Bescheid zu sagen – auf Reisen in ihrem Wohnmobil, dem „Leisure Seeker“. So heißt auch der Film, mit dem der Italiener Paolo Virzì am Wettbewerb teilnimmt, zum ersten Mal mit internationalen Schauspielern im großen Stil.
Die Komödie über die Komplikationen der Liebe im Alter stemmt Virzì dank seiner bestens verkalkten Hauptdarsteller mit Leichtigkeit, was dann in einem der bisher schönsten, wenn auch nicht künstlerischsten Filme des Wettbewerbs resultiert. Darstellerpreise nicht ausgeschlossen.
Zukunft der Bibliothek
Bleibt die sprödere Filmkunst des geduldigen Hinsehens. Der Dokumentarfilmer Frederick Wiseman blickt in seinem konkurrierenden Beitrag „Ex Libris: The New York Public Library“ auf die Aktivitäten der renommierten New Yorker Bildungsinstitution. Schaut bei Lesungen von Richard Dawkins, Elvis Costello und Patti Smith vorbei, streift durch die Lesesäle, lässt die Bildungsprogramme der verschiedenen Standorte Revue passieren, von Nachhilfe für Schulkinder über Jobbörsen bis zu Diskussionen zur spezifischen Situation der Afroamerikaner in den USA. Und besucht immer wieder interne Sitzungen zur Verteilung der Mittel, bei denen die Frage nach der Zukunft der Bibliothek verhandelt wird.
Dass Bibliotheken längst keine Lagerhäuser für Bücher mehr sein wollen, sondern sich in erster Linie als Orte verstehen, an denen Leute mit Bildung ermächtigt werden sollen, heute vor allem über das Internet, macht Wiseman mit seinem Material mehr als deutlich. Er wechselt dabei unmerklich zwischen nüchtern abgefilmten Veranstaltungen und atmosphärischen Einstellungen, ohne seinen Gegenstand zweckfrei für schöne Motive auszuschlachten.
Dieser Ort, scheint es, wird noch gebraucht. So merkt man kaum, dass darüber dreieinhalb Stunden ins Land gegangen sind.
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