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Filmfestspiele in LocarnoUnflätige Furien und Monster

Am Wochenende endeten die Filmfestspiele von Locarno. Der neue Leiter Olivier Père gab kantigen, mutigen Filmen den Vorzug vor mittelmäßigem Qualitätskino.

Der Deutsche Beitrag des Festivals: "Das letzte Schweigen". Bild: dpa

LOCARNO taz | Einmal angenommen, jemand würde an den beliebten Seeort Locarno kommen und hätte keine Ahnung davon, dass hier gerade ein Filmfestival stattfindet: Was würde diese Person davon halten, 5.000 Menschen auf der Piazza Grande vorzufinden, die einem Autoreifen dabei zusehen, wie er durch die Wüste rollt? Keinem gewöhnlichen Pneu, wohlgemerkt, sondern einem, der alles, was sich ihm entgegenstellt, entweder zerquetscht oder mit purer Geisteskraft pulverisiert: Flaschen, einen Skorpion und irgendwann dann auch Menschen.

Der Film mit dem bizarren Helden heißt "Rubber", stammt von dem französischen Musiker und Regie-Exzentriker Quentin Dupieux und spiegelt treffend die Ausrichtung des neuen Festivaldirektors Olivier Père wider, der zwischen populären Formaten und Autorenkino keine so enge Grenze zieht. Der 39 Jahre alte Franzose hat bis 2009 die Quinzaine des Réalisateurs geleitet, die renommierte Nebensektion in Cannes. Dass er deren cinephile Traditionspflege bei gleichzeitiger Suche nach radikaleren Formen auch im Tessin weiterzupflegen gedenkt, kann man schon an einem neuen Trailer erkennen, der geradezu schamlos an jenen auf der Croisette anschließt.

Ein weiteres Indiz: Auf der Freilichtleinwand der Piazza waren die üblichen Konsensarbeiten rar. Stattdessen gab es Monster, Untote und "Cyrus", eine US-Komödie der Brüder Mark und Jay Duplass, die mit dem Charakterkopf John C. Reilly auch einen beschwingten Hollywood-Star auf das Festival brachte. "Cyrus" ist genau genommen keine Komödie, sondern ein Film über die Schwierigkeiten von Menschen, alte Verhaltensmuster abzustreifen. Dabei beginnt alles recht vielversprechend: John (Reilly) verliebt sich in Molly (Marisa Tomei), die beiden scheinen "a perfect match", bis sich herausstellt, dass es da noch einen Dritten gibt: Cyrus (Jonah Hill), Mollys Sohn, ein nervtötendes Riesenbaby, das mit 22 Jahren immer noch zu Hause lebt.

Die Beziehung der beiden gleicht einer Festung der Innigkeit, hart an der Grenze zur Perversion. Für die Duplass-Brüder, die bisher kleine Independentfilme gedreht haben, ist dies die erste größere Arbeit mit etablierten Stars. Ihre freie, auf Improvisation setzende Technik haben sie beibehalten. Dem Film verhilft dies zu einer Direktheit, die menschliche Unbeholfenheiten betont und Gefühlsnotstände ausreizt, auch um den Preis manch herrlicher Peinlichkeit.

Die schwierigere Aufgabe hat Père mit dem Wettbewerb zu bewältigen, der durch die zeitliche Nähe des Festivals zum prominenteren in Venedig benachteiligt ist. Auch hier war die Mühe zu erkennen, kantigen, mutigen, mitunter auch nur pseudoprovokativen Filmen den Vorzug gegenüber mittelmäßigem Qualitätskino zu geben. Die französische Schauspielerin Isild Le Besco geht es in ihrem dritten Regiewerk "Bas-Fonds", einem Drama um drei schlimm verwahrloste jugendliche Mädchen, mit maximaler Lautstärke an - drei brüllende, unflätige Furien teilen sich eine Wohnung, kommuniziert wird ausschließlich brüllend, es hagelt Hiebe, und manchmal ziehen die drei dann los, um ihre Umwelt zu terrorisieren. Gut daran ist, dass Le Besco auf dröge psychologische Erklärungen verzichtet, die Mädchen verbindet eine animalische Attraktion, aber ihren Darbietungen fehlt es an Überzeugungskraft, um tatsächlich zu verstören.

Auch Pia Marais neuer Film "Im Alter von Ellen", dem deutschen Wettbewerbsbeitrag, gelingt es nur passagenweise, der Sinnsuche ihrer Heldin Resonanz zu verleihen. Jeanne Balibar - die hier ein befremdliches Kunstdeutsch spricht - ist Ellen, eine Stewardess, die aus dem Tritt gerät. Sie verliert ihre Stelle, driftet durch anonyme Räume, hängt sich an Fremde an, taucht schließlich in Subkulturen wie einer Tierschützergemeinschaft unter. Für Ellens zielloses Treiben findet Marais betörende Bilder, die den Arbeitsalltag in ein surreales Licht rücken; doch immer dann, wenn die Suchende verharrt, auf eine neue soziale Herausforderung trifft, behauptet der Film mehr, als er einzulösen vermag.

Die überzeugendsten Filme waren leise, behutsame Vermessungen begrenzter Milieus: Der Chinese Li Honqqi hat "mit Han Jia" ("Winterferien") eine ungewöhnliche Komödie über den Stillstand der Jugend seines Landes gedreht. Statische Einstellungen, in denen wenig passiert, am Ende aber dann meist eine böse Pointe lauert, führen durch den letzten Ferientag in einem nördlich gelegenen Dorf: Die jüngsten Kinder dort wünschten, sie wären Waisen, um sich der familiären Unterdrückung zu entziehen, die etwas älteren siechen auf einer Couch dahin, schlagen sich auf den Kopf oder führen Gespräche, die ständig im Kreis verlaufen. Zeit vergeht in "Winterferien" qualvoll langsam, die Muster wiederholen sich häufiger, manche Gags wirken zu forciert, aber die formale Strenge, mit der Li Honqqi diesen Totalausfall an Perspektiven einfängt, ist bemerkenswert. Sie hat ihm den Goldenen Leoparden eingebracht.

"Cold Weather" vom jungen US-Amerikaner Aaron Katz verbindet den ungeschönten Blick eines Mumblecore-Films mit dem spielerischen Geist eines Jacques Rivette: Doug (Cris Lankenau) arbeitet in einer Eisfabrik in Portland, träumt aber insgeheim davon, ein abenteuerlicheres Leben zu führen und komplizierte Kriminalfälle zu lösen wie sein großes Vorbild Sherlock Holmes. Das Verschwinden einer Freundin reißt ihn aus seiner Lethargie, er beginnt zu ermitteln, beschattet einen Fremden, raucht sogar Pfeife. Das realistisch-spröde Setting des Beginns weicht einer heiter-mysteriösen Kriminalgeschichte.

Auch der als bester Regisseur prämierte Frankokanadier Denis Côté öffnet realistische Settings für subjektive Empfindsamkeiten: Prosaisch umzirkelt er in "Curling" seinen Protagonisten Jean-François (Emmanuel Bilodeau), einen menschenscheuen Gelegenheitsarbeiter, der seine Teenie-Tochter argwöhnisch von der Umwelt fernhält und von einer unklaren Schwermut befallen scheint. Dem Film gelingt es, in ruhigem Tonfall von einfachen Leuten zu erzählen und dabei Bilder zu entwerfen, die irritierende Symbolkraft entfalten. Das Schönste daran ist, dass er sich nicht vollkommen preisgibt: Irgendwo im Wald liegen ein paar von Eis überzogene Tote, von deren Schicksal man nichts erfährt.

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