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Filmfestpiele mit fließenden RealitätenKino in der Schwebe

Regisseur Ye Lou zieht die Zuschauer*innen in ein chinesisches Agentenspiel. Ein dänischer Psycho-Film bringt sie in die geschlossene Anstalt.

Vor der Vorstellung von „Lan Xin Da Ju Yuan“: Schauspielerin Gong Li mit Musiker Jean Michel Jarre Foto: picture alliance/dpa

W ährend China außenpolitisch derzeit insbesondere durch die Proteste in Hongkong in Erscheinung tritt, kann man bei den Filmfestspielen in Venedig ein wenig von der Geschichte Chinas, genauer Schanghais im Zweiten Weltkrieg, erfahren. „Lan xin da ju yuan“ (Saturday Fiction) nennt der in Schanghai geborene Regisseur Ye Lou seinen Wettbewerbsfilm, der im Jahr 1941 spielt. Die Stadt ist 1937 von den Japanern erobert worden und seitdem besetzt. Chinesischer Geheimdienst und Alliierte arbeiten zusammen gegen die Japaner. Woran genau, weiß man zunächst nicht so recht.

Star-Schauspielerin Jean Lu kehrt aus dem Exil nach Schanghai zurück. Wo sie auftaucht, wird sie von Pressefotografen umringt. Am Lyceum-Theater erwartet man sie für eine Produktion unter dessen Direktor Tan Na. Der hat zudem eine Liebesbeziehung zu ihr. Gong Li spielt diese Jean Lu als würdevoll unnahbare Frau, rätselhaft, in sich gekehrt, der taiwanesische Darsteller Mark Chao als freundlich-besorgter Tan Na. Und sie ergeben ein großartiges Paar.

Zwischen die beiden schiebt sich jedoch bald etwas ganz anderes. Jean Lu hat neben ihrer Verpflichtung am Theater nämlich noch einen Auftrag für die Alliierten zu erledigen. Regisseur Ye Lou lässt die Dinge dabei im Ungewissen, der Blick des Publikums gleitet mit der Kamera übergangslos von einer Theaterprobe zu einem konspirativen Treffen und wieder zurück, nie ist man sich ganz sicher, auf welcher Ebene das Gezeigte gerade spielt – oder auf wie vielen gleichzeitig. Als dann das Stichwort „Hawaii“ fällt, begreift man, dass man den Tagen unmittelbar vor dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 beigewohnt hat.

In historisch passendem Schwarz-Weiß gehalten, zeichnet Ye Lou so ein Porträt seiner Stadt, auch wenn diese nur in Ausschnitten zu sehen ist. Wobei er keinen Geheimagentenfilm im herkömmlichen Sinn gedreht hat, denn ebenso sehr wie um die Spionageaktivitäten in der Stadt geht es in „Saturday Fiction“ um das Theater dieser Zeit. Dazwischen kann man sich wunderbar verlieren. Überblick ist im Kino schließlich kein Muss.

Träumen in der Psychiatrie

Den verliert man auch in „Psykosia“, dem Spielfilmdebüt der dänischen Regisseurin Marie Grahtø. Trine Dyrholm ist darin als Psychia­terin Dr. Klein in einer geschlossenen Anstalt zu erleben. Sie erhält Unterstützung von der Suizidforscherin Viktoria, die sich einer besonders gefährdeten Patientin widmen soll.

Die schwedische Schauspielerin Lisa Carlehed gibt diese Viktoria als zugeknöpfte Wissenschaftlerin, die sich einer unberechenbar impulsiven Frau als zu behandelndem Fall gegenüber sieht. Rasch zeigt sich aber, dass Viktoria mit dem Thema ihrer Arbeit einen intimeren Umgang pflegt als rein akademische Forschung.

Die Realität kommt darüber mehr und mehr ins Fließen, in Bildern, deren Farben und absurde Arrangements an Traumsequenzen denken lassen. Wessen Traum das ist, erfährt man erst zum Ende. Bis dahin hält Grahtø dieses Flirren stilsicher in der Schwebe. Und wirft die beunruhigende Frage auf, ob Selbstmord, wie es beim Psychoanalytiker Jacques Lacan heißt, tatsächlich der einzige „erfolgreiche Akt“ ist.

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Kulturredakteur
Jahrgang 1971, arbeitet in der Kulturredaktion der taz. Boehme studierte Philosophie in Hamburg, New York, Frankfurt und Düsseldorf. Sein Buch „Ethik und Genießen. Kant und Lacan“ erschien 2005.
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