Film über pädosexuellen Mann: Eine Chronik des Misslingens
Es geht um Kindesmissbrauch: Ungewohnt nüchtern erzählt Markus Schleinzer in "Michael" von den Ritualen der Unterdrückung. Aber etwas fehlt seinem Blick.
Ein Tierpark in den Bergen, es ist früher Herbst. Ein Mann und ein Junge gehen hügelaufwärts, die Hand des Mannes umfasst den Nacken des Kindes. Ein anderer Mann und ein anderes Kind kommen ihnen entgegen. Der erste Junge dreht sich nach den beiden um und sieht ihnen nach.
Kaum etwas in dieser Szene deutet darauf hin, dass hier nicht zwei Väter mit ihren Söhnen unterwegs sind. Höchstens der feste Griff um den Nacken oder der Blick des Kindes lassen ahnen, dass etwas nicht stimmt. Doch wir, die Zuschauer, wissen zu diesem Zeitpunkt von Markus Schleinzers Debütfilm "Michael" längst, dass der hügelaufwärts gehende Mann pädosexuell ist und den Jungen, den er am Nacken fasst, missbraucht.
Die kleine, nebensächlich anmutende Szene zwingt uns deshalb eine schmerzhafte Erkenntnis auf: dass der äußere Anschein nur einen winzigen Unterschied kennt zwischen dem Vater und dem Pädophilen. Das Normale und das Monströse sehen einander so ähnlich, dass wir unsere Vorstellungen von Normalität und Monstrosität überdenken müssen; die Abspaltung des einen vom anderen ist nicht so leicht möglich, wie wir das gerne hätten.
Der Protagonist von "Michael", dieser pädosexuelle Mann, führt ein durch und durch geordnetes Leben. Er ist Versicherungsangestellter, seine Arbeitskollegen, seine Schwester oder seine Nachbarn finden an ihm nichts Außergewöhnliches. Im Keller seines Einfamilienhauses hält er den etwa zehn Jahre alten Jungen gefangen.
Schleinzers Film ist nun in erster Linie daran interessiert, den Alltag dieser Missbrauchssituation zu verzeichnen. Manchmal sehen wir, wie der Junge und der Mann fernsehen, manchmal, wie sie gemeinsam eine Mahlzeit einnehmen, einmal, wie sie vor dem Weihnachtsbaum "Schlaf in himmlischer Ruh" singen. Recht oft sehen wir, wie der Mann den Jungen dazu anhält, das Kellerzimmer zu putzen.
Und gelegentlich muss der Junge dem Mann sexuell zu Diensten sein. Das sehen wir nicht, stattdessen sehen wir, wie der Mann in den Keller geht und in der nächsten Szene am Waschbecken steht, wo er sich den Schwanz wäscht, bevor er in einem Wochenkalender ein Kreuzchen macht. Oder wir sehen, wie der Junge das Waschbecken seines Kellerzimmers auswischt, während der Mann auf dem Kinderbett liegt. Er lässt seine Hand in den Schritt gleiten, sein Blick verändert sich kaum merklich, er sagt "Komm her" zu dem Jungen.
Subtiles Schauspiel
Michael Fuith, der Darsteller des Mannes, agiert in dieser Szene frappierend subtil: In den Pupillen seiner Figur lässt er einen Hauch von Lüsternheit aufscheinen. Das genügt ihm, um zu verdeutlichen, worum es hier geht; uns, den Zuschauern, bleiben weitere Details erspart.
Wie der Junge in den Keller gekommen ist, erzählt Markus Schleinzer nicht, ebenso wenig, was den Mann zu seinen Taten treibt. "Michael" hat nichts von der Sensationsgier der Boulevardmedien, deren Empörung über Sexualverbrechen einen umso stechenderen Hautgout hat, je mehr Lust sich in die Empörung mischt.
Schleinzer, bisher als Caster aktiv, verzeichnet, registriert, er interessiert sich für die logistischen Aspekte, für Abläufe und Routinen, und er verleiht seinem Film dadurch eine große Nüchternheit. Wir lernen das Haus, den Tatort, genau kennen, den Sicherungskasten vor der Kellertür, mit dem der Mann entscheidet, ob das Kind im Dunkeln sitzt oder nicht, die Rollläden, die der Mann Abend für Abend herunterlässt, den Esstisch, an dem die beiden einander gegenübersitzen.
Slapstick und Suspense
In diesen kühl registrierenden Modus ragen zwei Dinge hinein, die man aus ganz anderen Filmgenres kennt: Slapstick und Suspense. Suspense, weil der Mann zweimal in Unfälle verwickelt wird und das Kind deshalb allein im Keller sitzt; wir wissen, dass es verhungern wird, falls der Mann nicht rechtzeitig zurückkommt. Slapstick, weil der Mann etwas Unbeholfenes hat, und zwar nicht nur in den sozialen Interaktionen, sondern auch in seinen Bewegungen. Beim Skifahren stürzt er und braucht lange, um wieder auf die Beine zu kommen.
Beim Versuch, Sex mit einer Frau zu haben, stellt er sich auch nicht eben geschickt an, und beim Kauf des Medikaments läuft er vor ein Auto. "Michael" ist damit auch eine Chronik des Misslingens. Der Mann, der so viel Macht über das Kind ausübt, ist selbst nicht Herr über seinen Körper.
Die feine Beobachtungsgabe, die Nüchternheit, die denkbar weite Entfernung zur Sensationsgier der Boulevardmedien: All das spricht für "Michael". Dennoch hinterlässt der Film bei mir ein Unbehagen, auch beim zweiten Sehen. Nicht, weil ich denken würde, dass man über Kindsmissbrauch nicht auf diese Weise erzählen, den Täter nicht in den Mittelpunkt des Interesses rücken dürfte.
Mein Unbehagen speist sich aus etwas anderem, nämlich aus dem, was man, etwas altmodisch, Haltung nennt. Mir fehlt in "Michael" das Mitgefühl für das Kind, und mir fehlt in dieser kühlen Betrachtung der Versuch, die seelischen Versehrungen auf subtile Weise zu vermessen. "Michael" könnte die gravierenden Verletzungen, um die es geht, in ihren feinstofflichen Dimensionen ausloten, statt unverwandt auf das Geschehen zu blicken. Der Film könnte sensibel werden, statt sich in seiner Nüchternheit einzukapseln.
Denn zwischen dem kühlen Registrieren und der billigen Empörung des Boulevards gibt es ja ein Drittes: Empathie. Und ohne die läuft "Michael" Gefahr, sich einem Zynismus anheimzugeben, der jeder Form der Erkenntnis in die Quere kommt.
"Michael". Regie: Markus Schleinzer. Mit Michael Fuith, David Rauchenberger u. a. Österreich 2011, 95 Min.
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