Film "Die Summe meiner einzelnen Teile": Jenseits der Normalität
Der Sturz in eine bipolare Welt: "Die Summe meiner einzelnen Teile" von Hans Weingartner erzählt empathisch von einer psychischen Krankheit.
Mit zwei sehr gegensätzlichen Empfindungen überfällt dieser Film seine Zuschauer gleich am Anfang: Zuerst ist da der junge Mann, der außer Atem, aber irgendwie selig seinen nackten Oberkörper im brüchigen Sonnenlicht einer Waldlichtung dreht.
Und dann ist da derselbe junge Mann, der in Winterkleidung, die Arme auf den Rücken gefesselt, in einer Polizei-"Wanne" kauert und nichts als laute, panische Atemzüge von sich gibt. Mit dem Unmittelbarkeitsgestus der Handkamera gefilmt, drücken diese Szenen mehr aus als nur den plumpen Gegensatz von Freiheit und Eingesperrtsein.
Man ist sofort bei Martin (Peter Schneider) und seinen Gefühlen, seinem bipolaren Seelenzustand. Mit ihm empfindet man das sanfte Glück der offenen, beruhigenden Umarmung der Natur, die Aufgehobensein bietet, ohne einzuschränken. Und dann die Angst des Ausgelieferten und Gefesselten in der Dunkelheit, den die Polizei in ihre Gewalt gebracht hat.
Schon in seinem Spielfilmdebüt "Das weiße Rauschen", mit dem der Österreicher Hans Weingartner schlagartig zum Hoffnungsträger des deutschsprachigen Films aufstieg, erzählte er aus ungewohnt empathischer Perspektive von einer psychischen Krankheit. Verkörperte damals Daniel Brühl ein allmähliches Hinübergleiten in die Schizophrenie, hat Peter Schneiders Martin in "Die Summe meiner einzelnen Teile" die Normalität schon länger hinter sich gelassen.
Wie in Trance
Als Erinnerungsfetzen werden ein paar Szenen aus dem Davor eingeblendet. Da gibt es den Personalleiter der Firma, der ihn nicht mehr einstellen will nach einem dreimonatigen Psychiatrieaufenthalt. Es sind nicht seine Fähigkeiten, es ist seine Belastbarkeit, die infrage steht. Da gibt es die Freundin (Julia Jentsch), die bereits einen anderen hat, als er seine Sachen bei ihr abholt. Und es gibt den Gerichtsvollzieher, der seine Wohnung räumen lässt.
Martin landet auf der Straße, scheint hilflos, wie in Trance, bis er Viktor (Timur Massold) trifft, einen zehnjährigen Jungen, obdachlos wie er, der gerade seine Mutter an eine Überdosis Drogen verloren hat. Und nur russisch spricht. Viktor scheint sich auszukennen mit dem Leben auf der Straße, weiß, was man tun muss für ein bescheidenes Auskommen. Und irgendwann entscheidet Viktor, dass der Wald ihre neue Heimstatt werden wird.
Mit Viktor im Wald
Versteckt hinter einer der vielen Datschensiedlungen, die es um Berlin herum gibt, bauen sie sich eine Unterkunft. Es wird Sommer, und die beiden verlorenen Gestalten finden eine glückliche, prekäre Balance zwischen Toben unter Bäumen, kleinen Raubzügen in die umliegenden Hütten und Ausflügen in die Stadt. Es könnte ihnen gut gehen, scheint Weingartner zu erzählen, wenn da nicht die Gesellschaft und ihre Regeln wären.
Letzteres gehört zur eher schwachen Seite des Films. Wie er es bereits so exemplarisch in seinem bekanntesten Werk, "Die fetten Jahre sind vorbei", vorgeführt hat, übt Weingartner auch in "Die Summe meiner einzelnen Teile" wieder eine Systemkritik, die sich allzu einfach aus dem Gegensatz von Individuum und Gesellschaft ableitet. Vom prügelnden Vater über die strenge Ärztin bis zu den zupackenden Polizisten sind die "Anderen" ausnahmslos grobe, roboterhaft agierende Stellvertreter des Falschen.
Seine starke, packende Seite aber zeigt der Film da, wo er sich seinen beiden Hauptfiguren zuwendet, auf fast irritierend behutsame, ja zärtliche Weise. Wie sie sich umarmen, gegenseitig beschützen, aufeinander achten - in ihrer Beziehung liegt ein Geheimnis, das Weingartner nach und nach enthüllt. Als man es schließlich begreift, weiß man um Martins "Verrücktheit", sieht aber auch, wie meisterhaft er sich zu schützen versteht.
Filmstart: 2.2.2012
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen