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Festival in OsnabrückInszenierung des Alltags

„Spieltriebe“ folgt in seinem fünften Jahr unter dem Motto „Total Real“ einem Trend und lässt die DarstellerInnen ihre eigenen Biografien präsentieren.

Vorliebe für Uraufführungen: Szene aus dem Stück "Mensch Karnickel", das erstmals in Osnabrück gezeigt werden wird. Bild: Uwe Lewandowski

OSNABRÜCK taz | Sonderurlaub für die Illusionsmaschinerie, den Eitelkeiten des Kunstmarktes Hausverbot erteilt, frische Stadtluft ins Theater gepumpt und dann den Alltags- auf den Bühnenraum verlängert. Sehnsucht nach dem Authentischen, Faszination des angeblich Echten, Wahren. All das wird befeuert durch die Anwesenheit lebendiger Menschen, die nicht so tun als ob, sondern ihre eigene Biografie präsentieren.

So geschieht es am kommenden Freitag in der Uraufführung von Lola Arias’ „The Art of Making Money“ am Theater Bremen. Sogenannte „Spezialisten der Straße“ sind zu erleben: drei Straßenmusiker, zwei Obdachlose und eine Ex-Prostituierte berichten von ihren täglich praktizierten Inszenierungen, mit denen sie das Geld fürs Überleben erarbeiten.

Gleichzeitig präsentiert das Festival „Spieltriebe“ in Osnabrück die Uraufführung von „Real life“. Heranwachsende aus dem Jugendclub Mania und der multikulturellen Theatergruppe Amigos Bandidos stehen auf der Bühne. Sie tanzen, rappen, erzählen von ihrem Alltag zwischen bewusster Selbstinszenierung und reflektierter Selbstpreisgabe.

Darsteller und Dargestellte sind in Bremen und in Osnabrück im Verhältnis 1:1 zu erleben. Ein Trend, der an deutschen Theatern inzwischen Mode geworden ist. Ihm widmen sich die „Spieltriebe“ unter dem Motto: „Total Real“. Einerseits werden die anti-illusionistischen Ästhetiken gefeiert. Mit Bürgerchören, Dokumentar- und Rechercheprojekten könne man soziale Realitäten ins Theater holen, erklärt Dramaturg Hilko Eilts. „Dann fragen Schauspieler, Ausstatter, Regisseure, wie sie da noch zur Geltung kommen können.“ So will Eilts mit dem Festival auch den kritischen Stimmen nachgehen, „die vor der Selbstaufgabe der Kunst durch Realitätsversessenheit und Authentizitätsterror warnen und die Rückbesinnung der Kunst auf ihre genuinen Fähigkeiten und Eigenschaften fordern“.

Zum Beispiel Autoren. Monatelang recherchieren und dann nur Interviews transkribieren, komprimieren und menschenfreundlich-bühnenwirksam arrangieren, das kann nicht der Dramatikerzunft letzte Weisheit sein. In Bremerhaven etwa wehrte sich letzte Saison Dirk Laucke, indem er zwischen die der Realität abgelauschten Dialoge der Hafenarbeiter seines Stückes „Cargonauten“ einige Szenen philosophierender Möwen schmuggelte.

Ein ähnlicher Balanceakt ist „Das Leben der Insekten“, die „Spieltriebe“-Uraufführung einer Dramatisierung des Romans von Viktor Pelewin. Der beschreibe ein Land zwischen Turbokapitalismus und postsowjetischer Bürokratie, sagt Eilts, bilde aber Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern überhöhe sie satirisch verspielt zu einer Allegorie und garniere mit surrealen Elementen. Diese Öffnung von Möglichkeitsräumen sei programmatisch für das Festival. Man wolle darauf verweisen, was diesseits des Wirklichkeitsprimats verloren gehe: die Utopien.

Zum fünften Mal soll das Festival also helfen, Denk- und reale Räume zu öffnen, Theatermittel zu erkunden – also Spieltriebe zu wecken. Mit zeitgenössischer Dramatik, spartenübergreifenden Projekten, Uraufführungen junger Komponisten, Kinder- und Jugendtheater sowie Bewegungskunst wird die Stadt erkundet. Wo anderswo die Aufmerksamkeit des Publikums mit einer ausgetüftelten Premierenabfolge über die Saisoneröffnungswochen gestreckt wird, haut das Theater Osnabrück alles an einem Abend raus: Von den elf gezeigten Produktionen sind neun Uraufführungen, von denen vier auch in die kommende Spielzeit übernommen werden.

Besucher erwerben Tickets für eine von fünf Touren, die jeweils mindestens drei Aufführungen beinhalten. Busse und Stadtführer leiten die entdeckungslustige Gemeinde raus auf die Berge, rein ins Zentrum. Die Kaserne Eversburg, das Gut eines Osnabrücker Adelsgeschlechts, ein Atomschutzbunker, die Melanchthonkirche und natürlich das Theater werden bespielt, aber auch eine „Freistatt der Kunst“ in Sutthausen, wo sich der Künstler Volker-Johannes Trieb mit Atelier, Büro, Galerie eingerichtet und drumherum eine Phantasmagorie aus Bauerngarten, Plastiken, Bildplatten, Pflanzenwildwuchs, Installationen geschaffen hat.

Gesucht werden Orte die durch ihre Geschichte, Raumwirkung und aktuelle Nutzung eine eigene Realität vorgeben, die sinnhaft etwas mit dem Festivalthema zu tun hat und so Inspirationsquelle oder Reibungsfläche für die geladenen Nachwuchskünstler sein kann. „Aber es wird immer schwieriger, neue Spielorte zu finden“, sagt Eilts. Bald seien alle Industriebrachen, vor sich hingammelnden Militäranlagen, Kultur- und Naturdenkmäler, Türme, Verließe, Museen, Behörden einmal von Spieltrieben belebt worden. Darum ist in diesem Jahr auch ein Ort bereits zum zweiten Mal dabei: die Zentrale der Hellmann-Spedition.

Seit 2008 arbeiten dort etwa 160 Beschäftigte in einer Großraumbürolandschaft mit Wohnzimmeratmosphäre. Hierzu wurde ein Speicher aus dem Jahr 1934 umgebaut. „Horizontal und vertikal durchlässig sowie sehr stylish ist dort alles“, sagt Eilts. „Es gibt keine Büros, keine eigenen Schreibtische, die Mitarbeiter finden sich in unterschiedlich gestalteten Bereichen in immer neuen Gruppen zusammen, alles morpht, auch zwischen Arbeit und Privatheit ist keine Abgrenzung möglich.“ Von diesem „Ort der Wirtschaft und Finanzen“ werde ganz Europa mit Warenströmen vernetzt. Ideal zum Nachdenken, „warum Europa heute auf Neo-Liberalismus reduziert wird“, sagt Eilts.

Carsten Golbeck hat daher Interviews mit Osnabrückern über die Idee Europa geführt – für den Aspekt Dokutheater/Rechercheprojekt – und die Aussagen in einen Krimiplot mit Kabarettgaudi eingebaut, um das Authentische mit dem Fiktionalen zu vermengen. Als Live-Hörspiel inszeniert, soll die „Club d’Europe“ betitelte Performance die Zuschauer durch die Gedanken- und Büroebenen flanieren lassen.

Spieltriebe: vom 6. bis 8. September an verschiedenen Orten in Osnabrück. Das ganze Programm:

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