Festival Club Transmediale Berlin: Wischen ist Macht
Arbeit am Gesamtkunstwerk: Der britische Bassenigmatiker Darren Cunningham alias Actress präsentiert am Freitag sein Album „Ghettoville“.
Eigentlich gar keine schlechte Idee, sich als Musiker rar zu machen – verborgen hinter Pseudonym oder Maske von Zeit zu Zeit ein Album zu produzieren und den Zirkus aus Social Media, Promotion und exklusiven DJ-Mixen links liegen zu lassen: So zumindest funktioniert die Methode von Darren Cunningham, der enigmatische Produzent hinter dem Pseudonym Actress.
„RIP Music 2014“ steht kurz vor Erscheinen seines neuen Albums „Ghettoville“ auf seiner Website. Actress, der große Charakterdarsteller britischer Bassmusik, kündigt den Abschied an. Und alle hören hin. Wobei das vermutlich nur ein Prank ist, der Kommentar eines Schelms. Denn „Ghettoville“, der Titel des vierten Actress-Albums, spielt auf sein Debüt „Hazyville“ an. Hier arbeitet jemand an einem Gesamtkunstwerk, das allmählich zu seiner Form findet.
Immer dabei: die verhallten Schlieren, das Markenzeichen von Actress. Er begräbt Rhythmus und Bass unter einer Schicht aus Hall und Rauschen. Mal bricht ein analoges Drumpattern hervor, mal ein Basslauf, dann klingt die Fantasie einer Lowrider-Fahrt durch das sonnige Atlanta nach.
Actress hat sich dem Vagen verschrieben, Fragmenten, die erst dann ausformuliert wirken, wenn man die Lautstärke bis zum Anschlag dreht. Konträr zu Burial, dem anderen großen Enigma der britischen Bassmusik, schlagen die Skizzen von Actress niemals in eine zuckersüße Melancholie um.
Festival: Das "Festival for adventurous Music and Art" findet noch bis zum 2. Februar in Berlin an Orten wie HAU, Berghain und Stattbad Wedding statt. Ohnehin ist die Stadt eine Keimzelle der elektronischen Musik.
Motto: Das Motto lautet "Dis-Continuity", die Bruchstellen und Verbindungslinien aus der Moderne und der Frühzeit der elektronischen Musik werden von heute aus untersucht. Etwa in Panels und Konzerten zur Geschichte schwedischer, französischer und russischen Elektronikpioniere und dem Stand der experimentellen Musik in Osteuropa. Es gibt Klanginstallationen. Konzerte radikaler Noise-Protagonisten, Aufeinandertreffen von Elektronikern mit afrikanischen Musikern. Vorträge, Workshops und Sets einiger der aufregendsten DJs der Welt.
Charme eines verlassenen Atomtestgeländes
Stattdessen beginnt „Ghettoville“ mit dem Charme eines verlassenen Atomtestgeländes in der Wüste. Ein Gitarrensample aus einem Spaghettiwestern dehnt sich fast bis zur Unendlichkeit, während im Hintergrund ein Schlagzeug aus metallisch klingenden Fragmenten leicht hinkend seine einsamen Runden zieht. Beim ersten Hören klingt „Ghettoville“ nach genau dem Ghetto, das man langsam satt hat.
Die Hochhaussiedlung in Randlage, in der sich all die Affekte versammeln, die zur Untergangsromantik aus Entfremdung und sozialer Isolation nun mal dazugehören. Actress ist clever genug, all dies nicht eins zu eins in seiner Musik abbilden zu wollen. Stattdessen verlegt er diese Affekte vom Stadtrand in die Innenstadtquartiere, mitten in unseren kiezigen Alltag.
„Ghettoville“ ist ein Soundtrack für die tote Zeit an Bushaltestellen oder an Supermarktkassen. Begleitmusik für die Momente des unentspannten Leerlaufs, in denen wir mit Eurodance und Autotune-HipHop zum Instantgenießen aufgefordert werden. Actress nimmt all diese Sounds, zerlegt sie in ihre Moleküle, setzt sie neu zusammen.
Post-digitales Flaneurtum
Auf „Corner“ wird der schwüle Groove von Südstaaten-HipHop durch den Fleischwolf gedreht und die Anzüglichkeit des Genres bis zur Parodie gesteigert. „Gaze“ wandert durch Ruinen eines Deephouse-Stücks und verirrt sich dabei immer tiefer. „Ghettoville“ ist ein Zeugnis post-digitalen Flaneurtums. Die Arbeitsweise des Collagierens leiht sich Cunningham von Pionieren der elektronischen Musik wie dem 2013 verstorbenen französischen Komponisten Bernard Parmegiani. Anders als Parmegiani, der immer die Bruchstellen betonte, um die Einförmigkeit der collagierten Popstücke vorzuführen, ordnet Actress seine Klangklötzchen neuen Oberflächen unter.
Als Album wirkt „Ghettoville“ auf beunruhigende Weise unabgeschlossen. Es strotzt vor Motiven, die nicht zu Ende gedacht werden. So klingt der Sound eher nach dem Wischen von Touchscreens anstatt nach Musik, bei der die Kontemplation nach dreißig Minuten durch die Notwendigkeit unterbrochen wird, das Vinyl umdrehen zu müssen.
Daher passt Actress gut in das Programm des diesjährigen Club Transmediale, wo er ein DJ-Set spielen wird. Hinter dem Mischpult verabschiedet er sich von der reinen Funktionsmusik, nimmt Loops auf, lässt sie ins Leere laufen und springt zwischen den Genres, ohne dabei das Gefühl für Körperlichkeit zu verlieren.
„Ghettoville“ ist die Gegenwart in Surroundsound. Actress lässt den Blick über die Kante des Bildschirms schweifen, um all die Widersprüche, die sich vor ihm ausbreiten, aufzunehmen. So entsteht einzigartige Musik, die digital produziert wird, sich ihre Ideen jedoch aus der analogen Nachkriegsmoderne nimmt und genau deshalb wieder etwas zurückgewinnt: die Zeitgenossenschaft.