piwik no script img

Feministisches Datenfieber

■ Fragebogen auf Frauen–Kongreß in Mexiko brachte Volkszählungsgegnerin in Bedrängnis

Vor den Anmeldetischen haben sich lange Frauenschlangen gebildet. Wie zum Trotz für die Wartezeit werden an uns Fragebogen verteilt. Ich hasse Fragebögen, doch die Frauen um mich herum scheinen meine Skepsis nicht zu teilen. Ich möchte vermeiden, daß meine Verweigerung als eurozentristische Arroganz mißverstanden wird - und werfe auch einen Blick auf die Fragen: Geburtsdatum, Nationalität, doch bei den Stichwörtern Rasse und Ethnie gerate ich schon ins Stocken. Vielleicht ist mein Vorbehalt typisch deutsch. Aber fühlt sich außer mir keine diskriminiert? Weiter gehts. In medias res: Sexualität und die Gretchenfragen: Ob Beziehung oder nicht, ob homo– oder heterosexuell, ob mono– oder polygam. Nach den Regeln des Multiple Choice–Verfahrens dürfen anschließend bevorzugte Sexualpraktiken angekreuzt werden: von a) Koitus bis d) Analer Sex. Sodann folgt die Frage nach der Eigentlichkeit: Ob und wie kommt frau zum Orgasmus - auch das zum Ankreuzen, der Einfachheit halber. AmerikanerInnen haben uns seit über 20 Jahren Statistiken über sexuelles Verhalten, sexuelle Vorlieben und Praktiken in Hülle und Fülle beschert und, als Folge davon, noch und nöcher Leitfäden für Frauen und Männer, wie Lust gemacht wird, gesponnen mit dem „überraschenden“ Ergebnis, daß Shere Hite uns jetzt in ihrer neuesten Untersuchung erklärt, daß in der Liebe das Gefühl fehlt und daß es besonders den Frauen fehlt. Das ist wirklich etwas ganz Neues! Nach diesem Fragebogen zu urteilen, soll den lateinamerikanischen Frauen der Umweg über die Statistik nicht erspart bleiben. Schließlich folgen noch Fragen zu Krankheiten, gewollten und ungewollten Abtreibungen, der Mitgliedschaft in feministischen Gruppen und politischen Parteien. In meinem volkszählungs–genervten Hirn gehen lauter rote Lämpchen an. Um mich herum aber wird weiter fleißig ausgefüllt, auch das, was gar nicht gefragt ist: In der Annahme, daß er versehentlich vergessen wurde, schreiben einige Frauen ihren Namen auf den Bogen. Das macht mich ziemlich fassungslos, schließlich kommen die Frauen aus Ländern, in denen die sexuelle und politische Repression zur Alltagserfahrung gehört, lesbische Frauen eingesperrt werden und Abtreibung verboten ist. Bleibt zu hoffen, daß die Frauen, die die vertrauensvoll beschriebenen Berge Papier mit nach Hause nehmen und auswerten, verantwortungsvoll damit umgehen. Barbara Beck

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen