Feminismus und die Probleme der Freiheit: Liebe, Sex, Zärtlichkeit
Feministische Themen geht die offizielle Politik routiniert an. Aber wäre es nicht wichtiger, aus feministischer Perspektive die Probleme gesellschaftlicher Freiheiten zu durchdenken?
Kürzlich trug die Kanzlerin einen rosa Blazer und hielt eine Rede zum Thema "90 Jahre Frauenwahlrecht". Vor ihr saßen die Frauen, die in ihrem Kabinett einen Ministerposten innehaben, sowie Alice Schwarzer und Hildegard Hamm-Brücher. Außerdem waren "engagierte Frauen" aus dem Volk eingeladen und ein paar Schulsprecherinnen aus Berliner Gymnasien. Sie winkten in die Kameras, kicherten und machten mit ihren Handys Fotos von der Kanzlerin ("Wir brauchten noch junge Gesichter", sagte mir später ein Mitarbeiter des Familienministeriums).
Frauen, Familie, Gleichberechtigung, das werden in diesem Jahr Wahlkampfthemen sein. Allerdings, das weiß jeder, bringen Wahlkampfdebatten die behandelten Fragen inhaltlich nicht unbedingt weiter. Da wäre es doch interessant, mal zu sehen, wie das Thema "Geschlechterverhältnis" zurzeit dort behandelt wird, wo die Diskussionen weitgehend inhaltlich geführt werden, zum Beispiel auf akademischen Tagungen.
Andererseits ist es auch ziemlich anstrengend, sich an einem Freitagnachmittag in einem engen Raum mit beschlagenen Fenstern fünf Vorträge à 45 Minuten zum Thema "Is Sex the Subject of Morality?" anzuhören; in den Pausen gibt es Schwarztee und Filterkaffee, sonst nichts. Es leuchtet sofort ein, dass sich nur 29 Menschen dazu entschieden haben - die Vortragenden, der junge Mann, der den Büchertisch betreut, und die Direktorin des Einstein-Forums, die Amerikanerin Susan Neiman, mitgezählt.
Ich kann hier nicht alle Vorträge wiedergeben. An einer Stelle war auch mal die Rede von den "Medienvertretern", denen es bedauerlicherweise ja wirklich selten gelinge, komplexe Zusammenhänge nuanciert darzustellen. Ich habe niemandem gesagt, dass ich für die Zeitung da bin.
Die israelische Soziologin Eva Illouz ist Professorin an der Hebräischen Universität in Jerusalem und zurzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Von ihr war die Initiative ausgegangen, diese Tagung abzuhalten, doch dann konnte sie wegen Krankheit nicht kommen. Susan Neiman las das Manuskript vor, und wieder wurde deutlich, dass Eva Illouz Lieblingsthema die komplizierten Widersprüche der heutigen Gesellschaft sind. Das war schon in ihrem Buch "Der Konsum der Romantik" so, mit dem sie 2003, als es auf Deutsch erschien, auch ein Publikum außerhalb des universitären Kreises erreichte.
Sie habe, heißt es in ihrem Vortrag, beobachtet, dass oft diejenigen sich für das Scheitern von Liebesbeziehungen die Schuld geben, die verlassen wurden - und nicht diejenigen, die Schluss gemacht haben. Eine Befragte, eine junge Frau aus New York, erzählt, dass sie ihrem Freund nach London nachzieht, ihre Wohnung und ihren Job aufgibt, um wenige Monate nach dem Umzug festzustellen, dass der Mann "aufhörte", sie zu lieben. Sie sei verletzt, vertraut sie Illouz an, aber wütend sei sie nicht, denn sie könne ihn ja nicht zwingen, sie zu lieben, und er habe ja nie versprochen, sie zu heiraten. Ob es ihr nicht schwer gefallen sei, alles aufzugeben, ohne verbindliche Zusagen zu haben, fragt Illouz. Sie habe ihm keinen Druck machen wollen, antwortet die Befragte, sie habe auf keinen Fall aussehen wollen, als wäre sie anhänglich.
Warum die junge Frau so denkt und warum dies ein Denkmuster unserer Zeit ist, mit dieser Frage beschäftigt sich Illouz Vortrag. Keine besonders dringliche Frage, könnte man meinen, schließlich geht es in der großen Schlacht zwischen Mann und Frau um die Meinungsführerschaft, um die Macht im Land, um die Posten in den DAX-Vorständen, um das Amt des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers. Aber Eva Illouz macht aus der Geschichte ein Exempel, das viel aussagt über das Verhältnis zwischen Mann und Frau in der westlichen Welt. Und tatsächlich werden an diesem Nachmittag die Vortragenden und auch die Zuhörer in ihren Wortbeiträgen immer wieder auf diese Frau und ihre traurige Geschichte zurückkommen. (Susan Neiman sagt bestimmt fünfmal, wie ungeheuerlich es sei, dass diese Frau ihre mietpreisgebundene Wohnung in Manhattan aufgegeben habe.)
Früher, sagt Illouz, in Jane Austens Romanen beispielsweise, war es eindeutig eine schwere moralische Verfehlung, wenn man sich verbindlich gab, es aber am Ende nicht war. Solche Moralvorstellungen gibt es heute nicht mehr, Mann und Frau können ohne Heiratsversprechen zusammen sein, sie können auch das Eheversprechen ohne Weiteres brechen, das stört niemanden. Aber das heißt nicht, dass unsere Gesellschaft heute ohne moralische Imperative auskommt. Sie lauten nur anders als Ende des 18. Jahrhunderts. Illouz stellt fest, dass die Autonomie des Individuums nicht nur eine moderne Errungenschaft ist, sondern darüber hinaus zu einem allgemeinen Prinzip geworden ist, an das sich jeder halten muss, will er in der Gesellschaft anerkannt sein. Jeder Versuch, die Freiheit des anderen einzuschränken, indem er ihn zum Beispiel auf einmal getroffene Entscheidungen festlegt, wird in unserer Gesellschaft als Vergehen betrachtet, so wie die viktorianische Gesellschaft die Unverbindlichkeit sanktionierte.
Gleichzeitig, und da liegt das Problem, suchen wir auch heute noch in Liebesbeziehungen Anerkennung, und zwar Anerkennung, die nach wie vor in Ritualen der Verbindlichkeit zum Ausdruck kommt. (Darüber hinaus, könnte man hinzufügen, hat für Frauen Verbindlichkeit in Beziehungsfragen auch eine ökonomische Bedeutung: 95 Prozent der Alleinerziehenden hierzulande sind Frauen, 43 Prozent von ihnen erhalten Hartz IV.)
Dass gesellschaftliche Freiheit neue innere Konflikte mit sich bringt, dass unsere heutige freiheitliche Gesellschaftsordnung nicht alle sozialen Regeln abgeschafft hat wie oft irrtümlich angenommen, sondern neue aufstellt - das sind die Motive, die auch die anderen Vortragenden aufgreifen.
Solche Ambivalenzen haben Alice Schwarzer noch nie interessiert. Man sieht sie direkt vor sich, wie sie sagt: Lasst mich in Ruhe mit so einem Gedöns! Vergangene Woche im Kanzleramt hat sie ihre Feministinnen-Uniform an (rote Schuhe und ein Issey-Miyake-Pleats-Please-artiges Gewand) und sagt routiniert ins Mikro, was sie immer sagt: Ich freue mich. Nicht träumen lassen. Frau hat jetzt auch mal das Sagen. Kann auch richtig Spaß machen. Taff. Mutig. Prima. Männer sich warm anziehen. Wie ich übrigens schon 1979 gesagt habe. Mein neues Buch.
Alice Schwarzer ist das offizielle Gesicht des Feminismus, eine Art Maskottchen der deutschen Frauenbewegung. Was soll sie schon sagen bei so einem offiziellen Empfang, persönlich eingeladen von der Kanzlerin? Immerhin könnte man zu ihrer Verteidigung anführen, dass sie diese feministischen Floskeln vor langer Zeit einmal selbst erfunden hat, die inzwischen auch Technokraten wie Frank-Walter Steinmeier ohne Weiteres über die Lippen gehen.
Ist ja nicht weiter schlimm, warum sollte das Kanzleramt auch der richtige Ort sein für subversive Diskussionen über Geschlechterrollen? Allerdings ist es schon bemerkenswert, dass auch hier die "Befreiung" immer noch das zentrale Motiv ist, wenn es um Geschlechterfragen geht, und dass die Bundeskanzlerin diese feministische Denkschule zur offiziellen Linie ausruft, während Soziologinnen wie Eva Illouz längst dabei sind, die neuen Probleme erreichter Freiheiten zu analysieren.
Natürlich musste Individualisierung in den Siebzigerjahren das wichtigste Ziel der westdeutschen Frauenbewegung sein, da Frauen damals von Gesetzes wegen in ihrer Freiheit eingeschränkt waren. Aber ist nicht heute eines der größten Probleme unserer Gesellschaft gerade die Überindividualisierung? Der Mangel an Engagement, politischer Empathie und gesellschaftlicher Solidarität, der Rückzug ins Private, der übersteigerte Konsumismus, der Karrierismus, die Erosion der Familie, dass viele glauben, es sich nicht leisten zu können, alte Menschen zu pflegen und junge großzuziehen. Und wäre es nicht die wirkliche Herausforderung, diese Probleme aus einer feministischen Perspektive zu durchdenken, allein schon deshalb, damit die Moral nicht denen als Argument überlassen wird, die, wie es scheint, nur darauf gewartet haben, Frauen die eben erst erlangte Individualität wieder streitig zu machen? (Beispiel: Frank Schirrmacher, mit dem Alice Schwarzer eine kumpaneiartige Männerfreundschaft verbindet.)
Ist es nicht völlig augenfällig, dass die Frauenbewegung, an deren Spitze sich Alice Schwarzer sieht und deren Ideen inzwischen allgemeine Werte geworden sind, sich der ganz und gar kommerzialisierten Sprache der individuellen Selbstverwirklichung bedient? Seit Beginn geht es der Frauenbewegung um die Rechte der Frau und nicht, auch nicht in letzter Zeit, um ihre Pflichten als vollwertige Staatsbürgerin. Liest man Alice Schwarzers kürzlich erschienenen Text über das in der Diskussion stehende Gesetz zur sogenannten Spätabtreibung, sieht man, wie stark sie ihre Perspektive beschränkt, wie sehr sie dem Gestus der Aktivistin verhaftet bleibt. Zu diesem Thema sind gleichzeitig Texte von Frauen erschienen, die sich des Dilemmas zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung bewusst sind, das sich Frauen wegen ihrer eigenen Geschichte von Ausgrenzung in anderer Dringlichkeit und Komplexität darstellt als Männern.
Hinter der großen Freitreppe im Kanzleramt gibt es noch einen Empfang, nachdem ein Klavierquartett, bestehend aus vier Frauen, aufgetreten ist. Es wird Prosecco ausgeschenkt, Wildgulasch in kleinen Gläsern und Lachskreationen werden gereicht. Die Kanzlerin stellt sich kurz dazu, dann ist sie weg. Alice Schwarzer bleibt noch. Eine Traube von Schulsprecherinnen, Pferdeschwanzmädchen in engen Jeans, hat sich um sie gebildet, sie gibt Autogramme.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen