Fehlende Seelenärzte bei Bundeswehr: Traumatische Nachwuchssorgen
Die Bundeswehr ist der steigenden Zahl von traumatisierten Soldaten nicht gewachsen. Fachärzte werden schon jetzt mit Zulagen geködert.
BERLIN taz | Die Anzahl der Soldaten, die seelisch verwundet aus Afghanistan zurückkehren, wächst. 153 Fälle von posttraumatischer Belastungsstörung hat das Verteidigungsministerium im ersten Halbjahr 2009 unter den Afghanistanrückkehrern gezählt. Im ganzen Jahr 2008 waren es 226. Hochgerechnet auf das Jahr, entspricht der Wert des ersten Halbjahrs 2009 einem Anstieg von 35 Prozent.
Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, wird ein Bündel von Symptomen genannt, die auftreten können, wenn ein Mensch eine schreckliche Erfahrung nicht verarbeiten kann. Früher nannte man Soldaten, die verstört heimkehrten, auch "Kriegszitterer".
Die Zunahme der Fälle "entspricht unserem Eindruck", sagt Peter Zimmermann, Chef der Psychiatrie am Bundeswehrkrankenhaus Berlin. "Man muss kein Hellseher sein", um angesichts der kriegerischen Zuspitzung in Nordafghanistan auch mit mehr PTBS-Fällen zu rechnen, sagt er. Von den insgesamt 100 Psychiatrie-Betten an den Bundeswehrkrankenhäusern der Republik seien 10 bis 20 Prozent mit PTBS-Patienten belegt. Zimmermann setzt darauf, dass die Bundeswehr imstande sein wird, die Bettenzahl zu erhöhen, wenn mehr seelisch erkrankte Soldaten heimkommen.
Dass Deutschland sich angesichts des stetig blutiger werdenden Einsatzes in Afghanistan auf neue Kriegszitterer einstellen muss, begriff im Winter auch das Parlament. Einstimmig beschloss der Bundestag im Februar, dass Erkenntnisse über die komplexe Krankheit zentral ausgewertet werden müssten: in einem Kompetenz- und Forschungszentrum zu PTBS. "Mitte des Jahres", so verkündete Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU), solle das Zentrum in Berlin arbeitsfähig sein.
Das wird eng. Mitte des Jahres ist vorbei, und von acht Stellen im geplanten Zentrum sind erst vier besetzt. Zwar haben die eingestellten Wissenschaftler bereits unter Regie von Zimmermann erste Studien verfasst, doch statt drei Psychiatern hat der Sanitätsdienst erst einen angeworben, und es gibt erst einen Psychologen statt deren zwei. "Wir haben keinen Personalpool, aus dem wir schöpfen können", erklärt der Leiter des Instituts für den Medizinischen Arbeits- und Umweltschutz der Bundeswehr, Detlef Iske. An sein Institut in Berlin soll das PTBS-Zentrum angedockt werden. "Wir sind bestrebt, die offenen Stellen so schnell wie möglich zu besetzen - bis Oktober", sagt Iske.
Es hat verschiedene Gründe, dass die Bundeswehr dem Wunsch der Politik so schnell nicht entsprechen kann. Etwa wird jedeR engagierte WissenschaftlerIn es sich dreimal überlegen, ob Iskes Adresse ein karrierefördernder Arbeitsplatz ist. Ende Mai hat der Wissenschaftsrat im Auftrag der Bundesregierung eine Bewertung des Instituts veröffentlicht. Das Dokument ist vernichtend.
Die Forschungs- und Entwicklungsleistungen im Bereich der Arbeits- und Umweltmedizin seien "in quantitativer und qualitativer Hinsicht gegenwärtig nicht ausreichend", schreibt der Wissenschaftsrat. Das Personal sei zur Forschung kaum in der Lage. Eine Lösung der strukturellen Probleme kann der Wissenschaftsrat nur in einer "grundlegenden, sehr kosten- und zeitaufwendigen Umstrukturierung des Instituts" erkennen - "oder in der Schließung".
Ein Bundeswehr-Insider sagt: "Natürlich ist das mit dem Zentrum jetzt nicht das, was die Politik sich vorgestellt hat. Die Bundeswehr hat die nötigen Experten eben nicht." Das Problem hätte sich nur noch verschärft, wenn man ein größeres, eigenständiges PTBS-Zentrum hätte gründen wollen. "Das wäre doch in einem halben Jahr noch viel weniger zu machen gewesen."
Die Bundeswehr hat die Mediziner nicht, die sie braucht, und sie bekommt sie auch nicht. Die Konkurrenz durch die 2.000 deutschen Kliniken, von denen außerhalb der Metropolen nahezu alle händeringend nach Ärzten suchen, ist enorm. Nach wie vor sind von den 40 Stellen für Psychiater, die bei der rund 250.000 Mann und Frau starken Truppe vorgesehen sind, nur 22 besetzt.
Doch fehlen nicht nur Seelenärzte. Der Wehrbeauftragte Reinhold Robbe (SPD) klagte in seinem jüngsten Bericht: Der Zentrale Sanitätsdienst habe "ganz offensichtlich erhebliche Probleme". Es fehlten 430 Sanitätsoffiziere, viele Sanitätsärzte hätten "innerlich gekündigt". Robbe weist darauf hin, was neben den offensichtlichen Belastungen durch Auslandseinsätze die Arbeitsbedingungen ebenfalls stark verändert: der Frauenanteil. Frauen stellen inzwischen rund die Hälfte der Sanitäter, 2008 waren 62 Prozent der Stabsärzte weiblich. "So wird der Sanitätsdienst besonders durch familienbedingte Abwesenheiten belastet", schreibt Robbe.
Eine Arbeitsgruppe im Ministerium soll nun bis Ende September Vorschläge vorlegen, wie Fachpersonal gehalten und gewonnen werden kann. Dieses Jahr bekommen die Fachärzte bereits eine Zulage von 600 Euro. Um die Abwanderung zu verhindern, hat das Ministerium den Bundeswehrärzten den Schritt in die zivile Verbeamtung stark erschwert.
Dabei dürfe das Ministerium keinesfalls stehen bleiben, fordert die FDP-Bundestagsabgeordnete Elke Hoff. "Einer der ersten Punkte muss sein, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird", sagt sie. "Gegenwärtig ist der Sanitätsdienst nicht in der Lage, seine Aufgabe zu erfüllen." Es werde Jahre dauern, die Nachwuchsrekrutierung aufzumöbeln. Doch müsse sich sofort auch die Ausbildung ändern. Die Sanitätssoldaten seien mit der Gewaltrealität in Afghanistan überfordert.
Indirekt bestätigt das auch Bundeswehrpsychiater Zimmermann. "Die Sanitätssoldaten", sagt er, "sind eine besondere Risikogruppe für PTBS."
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