Favela-Kunst: "Die informelle Stadt ist anders"
Ein Gespräch mit dem Stadtplaner Jorge Mario Jáuregui über seine Arbeit in den Favelas von Rio de Janeiro und sein Documenta-Projekt "Urdimbres".
taz: Herr Jáuregui, Sie arbeiten in den Favelas von Rio. In Europa denkt man dabei zuerst an Gewalt, Drogen, Armut, ungesunde Wohnverhältnisse und ein uneingeschränktes Wachstum. Wie sehen Sie die Favelas?
Etwa 50 Prozent der Weltbevölkerung, also rund 3 Milliarden Menschen leben in Städten. Aufgrund der geringen Einkommen ist rund die Hälfte der metropolitanen Bevölkerung vom formellen Wohnungsmarkt ausgeschlossen und baut daher spontan oder informell, das heißt außerhalb der offiziellen Pläne und Normen. Die bekanntesten informellen Stadtviertel sind die Favelas der brasilianischen Metropolen. Gut ein Drittel der Stadtfläche von Rio ist etwa mit Favelas bebaut. Von rund 5,5 Millionen Menschen leben 1,2 Millionen in Favelas.
1997 wurde das Programm "Favela-Barrio" aufgelegt. Es baut auf allen Erfahrungen, die jemals im Zusammenhang mit Bau- und Urbanisierungsprozessen in Favelas gemacht wurden, auf. Alle Probleme, bauliche, landschaftsplanerische, soziale, ökologische und auch die Frage hinsichtlich der Sicherheit der Bürger, werden gleichzeitig in Angriff genommen.
Der Architekt und Städteplaner Jorge Mario Jáuregui hat ein Büro in Rio de Janeiro. Er hat zahllose Preise erhalten und Brasilien bei der 8. Architekturbiennale in Venedig vertreten. Er arbeitet im Rahmen des Programms Favela-Barrio. Auf der documenta in Kassel stellt Jáuregui sein Projekt "Urdimbres" (etwa: "Verknüpfungen") vor, ein architektonisches Objekt, das aus seinen Erfahrungen mit der Arbeit in Favelas resultiert.
Jorge Mario Jáuregui: In der Favela herrscht ein sozialer Zustand des Ausschlusses. Sie ist ein Anzeichen dafür, dass in einer Gesellschaft etwas nicht in Ordnung ist. Die andere Seite, ein hohes Maß an Organisation in Verbindung mit einem hohen Umwandlungs- und Entwicklungspotenzial, wird in den Medien allerdings meist nicht gezeigt. Trotz der fatalen sozialen und ökonomischen Bedingungen herrscht ein hohes Maß an Solidarität und gesellschaftlichem Leben. Was der Mittelschicht verloren gegangen ist - die Solidarität und der nachbarschaftliche Zusammenhalt -, ist in den Favelas vollkommen üblich.
Wie beschreiben Sie den Unterschied zwischen der formellen, also der geplanten und geordneten Stadt, wo die Mittelschichten leben, und der informellen Stadt, den Favelas?
In der formellen Stadt finden wir geordnete, gradlinige Straßenverläufe, prinzipiell schachbrettartig um Häuserblocks angeordnet. Die Struktur der informellen Stadt basiert auf etwas viel Zeitgenössischerem: einer Art Möbiusschleife, bei der durch eine Verdrehung die innere und die äußere Seite ineinander übergehen. Dies ist sehr wichtig, um heutzutage die neue Beziehung zwischen dem Staatlichen und dem Privaten, zwischen dem Inneren und dem Äußeren, dem Individuellen und dem Gemeinschaftlichen, dem Gebäude und der Stadt zu überdenken. Die Favela bietet hier auf zeitgenössische Art Elemente, um die Gegenwart auf eine kühnere und herausforderndere Weise zu betrachten, als dies in der traditionellen Stadt überhaupt möglich ist.
Wie arbeiten Sie in den Favelas? Haben diese Viertel ihre eigenen Gesetze, die auch für Sie gelten?
Diese Gebiete sind immer abgegrenzter, mit eigenen Regeln und Gesetzen jenseits der allgemein gültigen; eine Folge der Gewalt, des Kampfes zwischen Polizei und Drogenhändlern und der Auseinandersetzungen untereinander. Man kann nicht einfach so in eine Favela hineinspazieren. Man muss einen Besuch ankündigen. Wenn wir ein Projekt planen, sprechen wir zunächst mit der Nachbarschaftsversammlung, deren Repräsentanten von allen Bewohnern der Favela als solche anerkannt sind und die deren Wünsche zum Ausdruck bringen. Im Dialog, begleitet von diesen Repräsentanten, ihre Wünsche aufnehmend und mit Fotos, Karten und Notizen dokumentierend, ziehen sich die Drogenhändler zurück, und es kommt zu keinen Konfrontationen. Der Passierschein für einen Architekten, um sich in einer Favela aufzuhalten, ist es, viele Zeichnungen und Pläne bei sich zu tragen.
Welche Partizipationsmöglichkeiten bieten Sie den Bewohnern an?
Die Haltung der Moderne war es, mit ihrer eigenen Konzeption von Stadt, von Gebäuden und öffentlichem Raum, die man auf einen Ort anwandte, zu planen. Die Moderne zwang die Leute, an diesen Orten zu leben, ohne deren Meinung zu berücksichtigen. Nachdem wir diese Arbeitsweise kritisch analysiert haben, gehen wir vom genauen Gegenteil aus: Wir besuchen die Orte und befragen die Menschen. Darüber interpretieren wir die Nachfrage vor Ort und können sie vom architektonischen und urbanistischen Standpunkt aus in beständige formale und räumliche Strukturen umsetzen. Dabei geht es nicht ausschließlich darum, das zu tun, was der "Kunde" möchte. Man muss interpretieren, ob die Nachfrage angemessen und richtig ist. Und man muss sogar feststellen, ob die Wunschvorstellungen aus Sicht der Betroffenen nicht zu niedrig angesetzt sind. Daher beinhaltet ein Projekt für uns auch immer eine didaktische Dimension. Auch wir lernen genauso dabei.
Für mich ist ein Projekt eine Waffe - eine Waffe, um einen Waffenstillstand im sozialen Krieg zwischen den Integrierten und den Ausgeschlossenen, zwischen den Armen und den Reichen, zwischen den Benachteiligten und den Bevorzugten zu erreichen. Das Projekt ist ein Instrument, das einen Dialog ermöglicht, eine Annäherung. Es erlaubt, dass man sich gemeinsam Gedanken machen kann, um die Situation zu verbessern, um einen Wandel des Bestehenden zu schaffen. Darum geht es. Und nicht darum, noch mehr Waffen zu beschaffen und den Krieg oder die Repression zu verschärfen.
Kann man so für eine nachhaltige Entwicklung sorgen?
Die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen, das Ausüben von Sportarten, in denen man Chancen hat, erfolgreich zu werden, um seine Situation zu verbessern, und die Schaffung sinnvoller Freizeitaktivitäten sind drei wichtige Faktoren, die eine nachhaltige Entwicklung fördern. Dazu muss die öffentliche Hand Grundstücke legalisieren oder kaufen, um dort sowohl Wohnraum als auch öffentliche Einrichtungen, die dem Zusammenleben förderlich sind, zu schaffen: Schulen, Kindergärten, einen Versammlungsraum, einen Sportplatz, eine Sporthalle, ein Kulturzentrum. Wenn man es richtig anstellt, entstehen so neue Orte der Zusammenkunft, die somit das gesellschaftliche und auch das wirtschaftliche Leben befördern.
Es scheint, als unterscheide sich Ihre Arbeit fundamental von dem, was wir in der Universität lernen.
Der informelle Städtebau ist vollkommen anders. Hier muss man alles den Umständen anpassen und gleichzeitig neu konzeptualisieren, um bestimmte Leitlinien vorzugeben, an denen sich die Entwicklung der Dinge orientieren kann. Dabei muss aber ein großer Freiraum erhalten bleiben, damit möglichst viele der Probleme direkt vor Ort gelöst werden können. Probleme, die diese Menschen zu lösen wissen, für die sie aber finanzielle und technische Unterstützung brauchen, damit sie dabei erfolgreich sind. Im Rahmen des seit zehn Jahren laufenden Projekts "Favela-Barrio" sind wir imstande, erst einmal einen Entwurf von Stadt zu denken, um dann die konkreten Maßnahmen zu veranlassen, die im Einzelnen ergriffen werden.
Sie haben an über 25 Urbanisierungsprojekten gearbeitet. Was ist aus Ihrer Sicht erreicht worden?
Wenn solch ein Projekt realisiert wird, bewirkt das einen grundlegenden Wandel hinsichtlich des Selbstwertgefühls der Favela-Bewohner. Diese Menschen fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen. Ihnen ist es peinlich, zu sagen, wo sie wohnen. Nachdem eine Urbanisierung durchgeführt wurde, sind sie nicht nur stolz auf ihren Wohnort, in dem nun sogar ästhetische Attribute, die sich auch auf das Wohlbefinden auswirken, eine Rolle spielen, sondern sie haben auch einen offiziellen Wohnsitz. Den können sie angeben, um in der formellen Stadt einen Kredit zu beantragen, der ihnen vormals, mangels Wohnsitz, versagt wurde. Die Favelas, in denen bereits gearbeitet wurde, werden als Referenzobjekte wahrgenommen, und die Menschen haben dies in eine politische Forderung umgesetzt. Alle Politiker, die sich heutzutage in Rio kandidieren, müssen verkünden, was sie in "Favela-Barrio" machen werden. Wenn nicht, gewinnen sie auch nicht die Wahlen.
In welchem Zusammenhang steht Ihre Arbeit in den Favelas mit dem, was Sie in Kassel präsentieren?
Meine Botschaft besteht darin, das Motto der Moderne - insbesondere Mies van der Rohes "Weniger ist mehr" wieder aufzugreifen und es um den Aspekt der sozialen Verpflichtung zu aktualisieren. Die Reduktion auf die minimalsten Bestandteile (als eine Art intellektueller Hygiene) bleibt weiterhin gültig und wir können hinzufügen: "Weniger kann mehr sein. Immer noch." Nur sage ich: weniger Konsumismus und Unterdrückung, was ein Mehr an sozialer Investition und Toleranz ermöglichen würde. Das Thema, das ich in Kassel zur Diskussion stellen will, ist der ethische Aspekt. In unserer gegenwärtigen Zeit gibt es so viele unterversorgte Menschen, die immer noch verhungern und keine Wohnung haben.
Wir können einzigartige, bewohnbare, relativ kleine Räumlichkeiten schaffen und durch Städtebau und Architektur erreichen, dass das Individuelle und das Gemeinschaftliche, der öffentliche Raum und die private Fläche auf bereichernde Art und Weise für das soziale Miteinander in einen Zusammenhang kommen. Denn in der Favela - und zunehmend auch in der formellen Stadt - gibt es von allem etwas, nur keinen öffentlichen Raum.
Mein Objekt "Urdimbres" leite ich klar aus der "Lektüre" der Favela ab. Mein Referenzrahmen ist dabei das Leben in seinem minimalsten Ausdruck: die von Mittellosigkeit geprägte Favela, in welcher jedoch die Solidarität großgeschrieben wird. Wo geteilt wird, wo es sogar einen Sinn für Schönheit und Ästhetik gibt, was man an den Farben, den verwendeten Materialien, den Klängen, den Strukturen, den Formen und an vielem mehr erkennen kann.
KLAUS SCHAAKE
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