: Fast-Food-Turnen im Globus
Europameisterschaften der Turner: Große Unruhe über neues Wettkampfsystem ■ Aus Stockholm Thomas Schreyer
Globe-Arena, Stockholm: Madonna knutscht gerade den Fuß einer Bronzestatue ab. Kaum ist ihr Video Like a Prayer abgelaufen, will sich ein knallroter Opel mit Höllenlärm von der Leinwand aus in das Publikum hineinbohren. „Gegen dieses Gefühl kannst du nichts machen“, versichert die Cola-Werbung - die Europameisterschaften der Kunstturner beginnen.
Auf vier je circa 100 Quadratmeter großen Flächen, die in der Mitte der etwa 16.000 Menschen fassenden Globushalle von Stockholm herunterhängen, muß sich das Publikum erst Werbung reinziehen - ein recht vehementer Vorgang, dem sich niemand entziehen kann und der jedes Mal volle zwanzig Minuten dauert. Dann wird es kurz dunkel und die Sponsoren erlauben endlich den Turnern, sich vorstellen zu dürfen.
Doch auch das muß ganz schnell konsumiert werden, denn nach dem neuen, bei diesen Europameisterschaften der Männer erstmals erprobten Reglement der „Europäischen Turn-Union“, darf ein Turner nur noch durch Turnen auffallen, nicht mehr durch Herumstehen, Herumsitzen, sich warm machen oder sich über eine Wertung freuen oder ärgern. Das gehört der Vergangenheit an. In einer gänzlich unpersönlichen kalten Atmosphäre wird der Turner nun zum Gerät geführt, muß seine Übung - sobald das grüne Lichtlein der Kampfrichter leuchtet - schnellstmöglich absolvieren und sofort wieder das Podium verlassen. Nachdem er sich die Wertung noch schnell ansehen durfte, wird er gleich wieder abgeführt.
Einheitsbrei
Der Vorgang wiederholt sich an jedem der sechs Geräte des Mehrkampfes, wo keiner der Athleten länger geduldet wird als unbedingt nötig. Die Meisterschaft verkommt zu einem Einheitsbrei der Fast-Food-Kategorie und die ZuschauerInnen müssen hellwach sein, wollen sie einen Gerätewechsel überhaupt mitbekommen. Es gibt keine gewollten Unterbrechungen mehr, Pausen entstehen nur, wenn die Kampfrichter unstimmig sind, und das passiert nur hin und wieder. Das Hauptargument für die Einführung des neuen Systems, den Wettkampfablauf zu beschleunigen, ist durch die Praxis in Stockholm widerlegt. Gewonnen wurde keine Minute, aber eine große Gegnerschar.
Deren gewaltigster Wortführer ist Vize-Europameister Valentin Mogilny aus der UdSSR. „Das ist doch alles nur noch Show, aber kein sportlicher Wettstreit mehr“, empörte sich der 23jährige Student. Er habe Verständnis dafür, daß das neue System für die ZuschauerInnen „vielleicht“ ganz schön sei. Aber diese müßten auch nicht den Wettkampf bestreiten, deshalb wäre es besser, sich an den Bedürfnissen der Sportler zu orientieren. Mogilny lehnt das neue Reglement entschieden ab, weil hier „ungleiche Bedingungen“ in Kauf genommen werden müßten. Da sich die Turner nicht mehr vor dem Publikum aufwärmen dürfen, müssen sie in eine Nebenhalle. Diese biete weder die gleichen Geräte noch die gleiche Temperatur noch die gleiche Umgebung.
Das mußte auch der EM-Dritte Holger Behrendt aus der DDR zugestehen, der zwischen Vor- und Nachteilen abzuwägen versuchte. Viel energischer noch meldete sich aber DDR -Cheftrainer Hofmann zu Worte, der dieses System als den „Untergang jeglichen Mannschaftsgefühls“ sieht und es verantwortlich für die schlechte Stimmung in der Halle macht.
Der lachende Dritte auf dem Siegertreppchen war der frischgebackene Europameister Igor Korobschinski: „Ich habe das neue Reglement zuhause schon ausprobiert, für mich war der Kaltstart an den Geräten nichts Neues. Korobschinski sah freilich ohnehin nur noch Blumen um sich. Überraschend sei er in die Nationalmannschaft berufen und - nach seinen Worten - mehr oder weniger zufällig nach Stockholm beordert worden. Jetzt ist er, der 19jährige Student, der in diesem Jahr auch die nationalen Meisterschaften der UdSSR für sich entscheiden konnte, aber im wesentlichen nur Insidern ein Begriff war, Europameister.
Da bekam er freilich nicht mehr mit, daß der Applaus weniger ihm als dem viertplazierten Johan Jonasson aus Schweden galt. Im Globus, der bestimmt nur zufällig neben dem Eisstadion gebaut wurde, kam nämlich lediglich dann Stimmung auf, wenn schwedische Athleten an den Geräten turnten. „Wie bei den Amis“, wunderten sich nicht wenige über das nationalistische Verhalten der Skandinavier, die den überbewerteten Jonasson mit Standovationen feierten. Hätten die schwedischen Athleten gefehlt, die wenigen ZuschauerInnen wären kaum aufgefallen, wußten sie doch aufgrund des neuen Fast-Food-Turnens nicht, wo sie sonst Höhepunkte hätten setzen bzw. überhaupt erkennen sollen.
Ob solcherlei Veranstaltungen den Sponsoren entgegenkommen, die mit pathologischer Penetranz und Aggressivität auf die Wirkung ihrer Werbeflächen achteten - besonders darauf, daß sie nicht verschoben würden durch störende Wettkampfteilnehmer oder andere Kleinigkeiten -, bleibt freilich offen. Das letzte Wort über die Einführung des neuen Reglements, das - wie Stockholm zeigte - gründlich danebenging und sich vielleicht noch als Schuß nach hinten erweist, ist noch nicht gesprochen.
„Wir werden protestieren“, sagten Trainer, die wie ihre Schützlinge, abgesehen von den deren Vorführungen, vom eigentlichen Wettkampfgeschehen ausgesperrt waren.
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