Fan-Doku „Istanbul United“: Erstaunliche Verschmelzung
Ambivalente Gewalt: „Istanbul United“ zeigt eindrucksvoll, wie Ultras, die einander spinnefeind sind, durch den politischen Protest geeint werden.
Revolutionen sind historische Augenblicke der Verwandlung, wenn sie gelingen, werden neue Staatssysteme installiert, Gesellschaften verändern sich. Allerdings bleibt auch etwas zurück, wenn solche Bewegungen ihre Ziele verfehlen. Die Demonstrationen auf dem Istanbuler Taksim-Platz vor gut einem Jahr endeten nicht mit dem Sturz der Regierung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, aber sie haben der Gesellschaft einen kurzen Blick auf das autoritäre Wesen ihres Staates ermöglicht.
Und jenseits des großen Nachrichtenbetriebs haben sie zum Erstaunen der Einwohner Istanbuls für einen kleinen historischen Moment gesellschaftliche Außenseiter zu Helden werden lassen: die wegen ihrer Gewaltbereitschaft gefürchteten Ultrafans der drei Istanbuler Fußballvereine Fenerbahce, Besiktas und Galatasaray.
Um diesen Augenblick dreht sich die beeindruckende Dokumentation „Istanbul United“, welche die Filmemacher Olli Waldhauer und Farid Eslam während der Unruhen gedreht haben und die ab Donnerstag in den deutschen Kinos läuft. Ein unfassbarer Hass erfüllt einen Teil der Fußballfans aus der türkischen Hauptstadt, regelmäßig gibt es bei den Zusammenstößen von Fangruppen der drei großen Istanbuler Vereine Verletzte, manchmal sogar Tote.
Der Film zeigt die Menschen, die diesen Hass spüren, die ihn schüren und pflegen. Männer, die lieben, die zusammenhalten, die ein Alltagsleben führen. Leute, deren Leben jedoch ohne ein Feindbild nicht zu funktionieren scheint. Die Istanbuler Ultras sind also kampferprobte Leute, sie führen seit Jahren regelmäßig mehr oder weniger gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei, die sie fast genauso hassen wie die Anhänger der Rivalen.
Kraftvolles Signal an die Bewegung
Als dann plötzlich ganz andere Menschen gegen diese Polizei kämpfen, politische Aktivisten, auch Frauen, ergibt sich eine erstaunliche Verschmelzung. Die Fans solidarisieren sich mit den Demonstranten, und diese Kraft vereint dann sogar die verfeindeten Anhänger der drei Klubs.
Es gibt in dem Film diesen wunderbaren Moment, in dem eine Aktivistin sagt: „Ich hätte mir in meinen kühnsten Träumen niemals vorstellen können, dass die Fans von Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray sich jemals zusammenschließen. Als ich diese Gruppen dann wirklich Seite an Seite marschieren sah, da habe ich gedacht:
Der Zusammenschluss der Ultras war ein kraftvolles Signal an die Bewegung, der man in diesem Film geradezu erschreckend nahekommt. Immer wieder befindet die Kamera sich mitten im Geschehen, es brennt, das Bild wackelt, weil der Kameramann flüchten muss, schreiende Menschen rennen durch Tränengaswolken in den Straßen. Der Film zeigt beeindruckende Szenen des Widerstands, die viel wirklicher erscheinen als die Bilder aus den TV-Nachrichten.
Der Schulterschluss verpufft
Und er zeigt die Ambivalenz der Gewalt. Die Fußballfans, für die kriminelle Aktionen zum Alltag gehören, werden in vielen Szenen durch das Pathos der Bildsprache heroisiert, und wenn sie auf dem Taksim-Platz für eine demokratische und freie Gesellschaft kämpfen, sind sie aus mitteleuropäischer Perspektive ja tatsächlich Helden. Wenn sie nach Fußballspielen ganz ähnliche Kämpfe mit der Polizei austragen, sind sie hingegen immer noch Leute, die sich auf völlig verirrten Pfaden bewegen.
Männer, die Gewalt und Hass schüren. Gewalt sei nun mal „Teil der kulturellen Atmosphäre, in der wir leben“, sagt ein Fenerbahce-Anhänger irgendwann recht lapidar, und das ist die deprimierende Botschaft am Ende. Der Augenblick des Schulterschlusses verpufft, am Ende kehren alle Seiten in ihre Position zurück, und es wird vermutlich nicht lange dauern, bis sie sich wieder bekämpfen. Aber irgendein Frieden stiftender Impuls, so die Botschaft des Films, wird bleiben von diesem kurzen Moment der Gemeinsamkeit.
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