berliner szenen: Fake-Flocken im vierten Stock
Hat es nur in Charlottenburg geschneit? Ich habe die Nachricht von den bezaubernden Kristallen aus Wasser gerade online gestellt. Sofort kam die Replik einer entfernten Bekannten, in ihrem Kiez sei nur Hundekot ausgeflockt. Habe ich das Ganze etwa nur so sehr herbeigesehnt, dass es vor einem inneren Auge wahr wurde? Zugegeben: Die Flocken fielen vielleicht nur vor einem Küchenfenster im vierten Stock in der Nähe des S-Bahnhofs Westkreuz, für eine Dauer von wenigen Minuten. Sie verwandelten sich, ehe sie vor den Küchenfenstern in den unteren Etagen erschienen, in banale langgezogene Regentropfen.
Weiter oben standen coronakonform zwei Hausstände auf Abstand beieinander und walkten zwei Kilo Gnocchi-Teig. Der Luftfilter brummte am Anschlag. Dann wurden die Teigwürste abgestochen. Derweil balgten sich die nicht unter die Zählregeln fallenden zahlreichen Unter-12-Jährigen. Mal schlugen sie sich, mal küssten sie sich. Irgendwann trotteten sie schweißnass in die Küche und hopsten auf die Schöße der Abstandhalter und flüsterten ihnen Geheimnisse in die Ohren.
Zeitgleich kochten zwei Soßen hoch. Rot-weiß. Viel Tomate im Schmortopf und verschiedene Käsesorten in der beschichteten Pfanne. Das Essen wurde kredenzt. Dann fielen zum zweiten Mal Flocken. Gefühlt zwei Minuten lang. Die äußeren Augen klebten am Fenster. Doch nichts davon blieb selbst auf dem Balkon im 4. liegen.
Bald war der Nachschlag verputzt. Nochmal tobten draußen die Flocken. Doch die Schneeleugner und Schneeleugnerinnen zweifelten auch meinen dritten Post an. 13 Uhr 15 hat es in Berlin niemals geschneit. Just als Schokolade aus einem Unverpacktladen zum Teilen zerbrochen wurde. Waren die feisten Flocken eine Akklamation des Plastikverzichts? Timo Berger
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