: Fahndung nach Realität
Kunstvolle Verschachtelung von Geschichten und Wahrnehmungsebenen: Christoph Peters liest im Literaturhaus aus seinem teils mit paranoidem Personal bevölkerten Roman „Das Tuch aus Nacht“
von Carola Ebeling
„Livias Büste wäre fast geglückt. (...) Ich habe ein dreiviertel Jahr daran gearbeitet, Nacht für Nacht. Die Haare glichen Haaren. Livia fand, dass es ihr ähnlicher sah als ihr Spiegelbild.“ Doch der Ich-Erzähler Albin in Christoph Peters neuen Buch Das Tuch aus Nacht, aus dem er heute im Literaturhaus lesen wird, zertrümmert sein Werk mit dem Vorschlaghammer. Bis von dem Abbild der Wirklichkeit nur noch Trümmerteilchen übrig sind.
Das verrät viel über das Drama von Albin Kranz, 28 Jahre alt, Steinbildhauer und Alkoholiker im Endstadium. Und es führt ins Zentrum des dritten Romans von Peters, der um Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit kreist. Dafür schickt er seine Figuren nach Istanbul. Hier wollen Livia und Albin sich als Paar eine letzte Chance geben.
Doch gleich zu Beginn beobachtet Albin einen Mord im gegenüberliegenden Hotel. Ein Ereignis, das eine unheilvolle Dynamik dadurch in Gang bringt, dass seine „Wirklichkeit“ in Frage steht. Denn außer Albins Behauptung gibt es keine Hinweise auf die Tat. Livia misstraut seinen rauschhaften Wahrnehmungen. Albin, von der Wahrheitssuche besessen, wittert eine Verschwörung: Die Russenmafia könnte dahinter stecken, will ihn als unliebsamen Zeugen beseitigen. Oft scheinen seine Vorstellungen paranoid, zumal er sich ununterbrochen Alkohol einflösst. So verliert er endgültig den Bezug zu Livia. Die verliebt sich in Jan, Mitglied einer Gruppe von KunststudentInnen, die im selben Hotel abgestiegen ist. Als Albin verschwindet, bleibt die Suche erfolglos.
Das Besondere an diesem Buch ist die ausgefeilte Erzählkonstruktion. Olaf, einer der Studenten, erzählt die Vorgänge scheinbar objektiv und ihrer Chronologie folgend. Peters weist ihm die konventionelle Rolle des (fast) allwissenden Erzählers zu. Im stetigen Wechsel dazu folgt man der monologisierenden Stimme Albins, der die Geschehnisse von ihrem Endpunkt her aufrollt. Manchmal kreuzen sich beide Stränge. Albins assoziatives inneres Erzählen vollzieht sich während der Dauer einer Schifffahrt, zu deren Beginn er einen Herzinfarkt erleidet; später stürzt er über die Rehling. Mit an Bord sind Livia und die Studenten, die nichts davon bemerken.
In Albins Bewusstseinsstrom nehmen Bilder einer trostlosen Kindheit immer mehr Raum ein. Ein gewalttätiger Vater, eine Mutter, die, um sich selbst zu schützen, die Söhne verrät und trotzdem zerbricht. Es tritt zu Tage, warum Albin das Leben als Simulation erschien, warum er das Gefühl der Unwirklichkeit damit zu bannen suchte, dass er die „Wirklichkeit“ in Stein haute: „Gesten zwischen Menschen freilegen, Berührungen (...)“ – und immer folgte die Zertrümmerung.
Der Roman beeindruckt durch die komplexe Verschachtelung seines Grundthemas. Und durch formale Virtuosität. Aber die anspruchsvolle Erzählkonstruktion erfordert eine Art Kontrolle über den Stoff, welche manchmal lähmt. Diese Starre löst sich mit der zunehmenden Hinwendung zur Figur Albins. Dessen kränkenden Zynismus, seine Reste von Trauer schildert Peters mit erzählerischer Intensität. Wie auch die tragische Konsequenz, dass selbst der eigene Tod „unwirklich“ bleibt, da niemand ihn wahrgenommen hat. So erhält Albin noch als Toter Nachricht von Livia, die einen Zettel hinterlässt: dass sie sich trennen wolle und wo er seine Sachen finde.
Christoph Peters: Das Tuch aus Nacht. München 2003, 318 S. 21,90 Euro Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38