Fachkräftemangel in Deutschland: Wachmänner mit Hochschulabschluss
In Deutschland werden dringend Fachkräfte gesucht. Dabei gibt es 300.000 ausländische. Doch ihre Abschlüsse werden nicht anerkannt. Ein Gesetz soll das erleichtern.
So hatte es sich die Russlanddeutsche Natalia Denk nicht vorgestellt. Als sie sich vor fünf Jahren entschloss, von Sibirien nach Deutschland zu ziehen, war sie überzeugt: "Ich werde mich hier wieder als Erzieherin beweisen können." Zuversichtlich reichte sie ihr Zeugnis von der pädagogischen Fachschule Krasnojarsk und den Lebenslauf, der die 28 Berufsjahre nachwies, bei der Berliner Senatsverwaltung für Bildung ein.
Der Brief, den sie im Mai 2009 erhielt, begann gleichwohl mit den Worten: "Nach Prüfung der eingereichten Unterlagen muss ich Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, dass die von Ihnen beantragte Gleichstellung Ihrer Ausbildung mit der hiesigen Erzieherausbildung derzeit nicht erfolgen kann."
Dieser Bescheid ist kein Einzelfall, befürchten die Wissenschaftlerinnen Martina Müller und Bettina Englmann. Im Auftrag des bundesweiten Netzwerkes "Integration durch Qualifizierung" untersuchten sie, wie Zuwanderer zwischen 2007 und 2009 hinsichtlich der Anerkennung ihrer Abschlüsse beraten werden.
Das Fazit ihrer Studie, die in diesem Monat veröffentlicht wurde: Sogar für hochqualifizierte Bewerber sind die Barrieren, um im deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, hoch. Die Praxis ist wirr, die Verfahren sind nicht einheitlich und "teilweise nicht darauf ausgerichtet, Fachkompetenz zu erfassen, sondern ausländische Abschlüsse und Berufserfahrungen abzuwerten".
Gleichzeitig klagen Unternehmen, Ärztekammern und Lehrerverbände über personelle Engpässe. Erst zu Jahresbeginn warnte etwa der Industrie- und Handelskammertag, "70 Prozent der Unternehmen haben Probleme, offene Stellen zu besetzen".
Dabei gibt es in Deutschland viele Fachkräfte, doch ihre Abschlüsse sind nicht oder nur teilweise anerkannt. Für die Arbeitsagenturen gelten Ärzte, Lehrer und Juristen, deren Abschlüsse nicht ins deutsche Ausbildungsprofil passen, als ungelernt.
Nach Schätzungen des Bundesbildungsministeriums könnten rund 300.000 Menschen, die derzeit arbeitslos sind oder unterfordert, wieder in ihren Berufen tätig werden, wenn ihre ausländischen Berufsabschlüsse entsprechend gewürdigt würden. Auf Initiative von Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) wird die Regierung daher voraussichtlich bereits im März ein Gesetz vorlegen: Dieses soll erstens allen Zuwanderern das Recht einräumen, ihre Abschlüsse anerkennen zu lassen und fehlende Qualifikationen leichter nachzuholen. Zweitens sollen einheitliche Standards gelten, damit eine Kammer in Hamburg künftig die gleichen Maßstäbe anlegt wie eine in Stuttgart.
Sie finde es "fantastisch", dass so ein Gesetz kommt, sagt Forscherin Englmann, dämpft aber gleichzeitig die Erwartungen: "Das ist der erste Schritt, ändern müssen sich auch die Rahmenbedingungen." In Kanada, wo man seit Jahren um qualifizierte Zuwanderer werbe, gebe es überall Beratungsstellen, Unis böten Brückenkurse für Zuwanderer an und Firmen Trainees. "Davon sind wir hier noch weit entfernt."
Dass es mit einem Recht auf Anerkennung, wie von der Bundesregierung geplant, nicht getan ist, zeigt auch die Situation Natalia Denks und der anderen rund zwei Millionen Russlanddeutschen, die seit Anfang der neunziger Jahre aus der zerfallenen Sowjetunion eingewandert sind. Sie haben zwar alle bereits einen Rechtsanspruch darauf, ihre Abschlüsse anerkennen zu lassen, doch für hiesige Ämter und Kammern zählen nur die Qualifikationen, die direkt mit deutschen Ausbildungen vergleichbar sind.
Über die Hälfte der russlanddeutschen Akademiker war nach einem Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von 2007 in Deutschland entweder arbeitslos oder geringfügig beschäftigt. Eine aktuelle Studie bestätigt den Trend. Rüdiger Wapler vom IAB sagt, dass sich hochqualifizierte Aussiedler auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor schwerer täten als Deutsche mit gleicher Qualifikation, aber auch als Geringqualifizierte.
Die Russlanddeutsche Irina Hermann hat ihre Nische gefunden - die Lehrerin berät Menschen, denen es so geht wie ihr einst: In das Berliner Ladenbüro des Integrationswerks "Respekt" kommen viele ehemalige Physik- und Mathematiklehrer aus Osteuropa. "Es herrschen Bitterkeit und Enttäuschung", erzählt Hermann. "Die Männer arbeiten oft als Wachmänner, die Frauen als Verkäuferin bei Lidl." Der Zutritt zum Klassenraum ist ihnen verwehrt.
Vierzehn Jahre lang hatte Irina Hermann Schülern in Russland Deutsch und Englisch beigebracht. Doch um Berliner Kinder unterrichten zu dürfen, hätte sie noch einmal studieren und danach den zweijährigen Vorbereitungsdienst für Lehrer absolvieren müssen.
Lehrer, die aus der EU stammen, müssen zwar nicht so lange nachsitzen, doch auch sie haben es in vielen Bundesländern schwer, in ihrem Beruf zu arbeiten. "Eine Anerkennung als ausländischer Lehrer zu erlangen ist selten möglich", schreiben die Studienautoren Englmann und Müller. Denn geprüft werde nicht, wie kompetent jemand sei, sondern im Mittelpunkt stünden formale Anforderungen der Prüfungsordnungen.
Und diese sind in Russland, aber auch in Berlin und Baden-Württemberg jeweils andere, denn jedes Land entscheidet hoheitlich, welche Pädagogen es in seine Kitas und Schulen lässt. Obwohl sie gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten, bleiben ausländische Lehrer und Erzieher von der Fachkräfteinitiative der Bundesregierung zunächst ausgeschlossen.
Es läge im Ermessen der Bundesländer, diese Hürden zu senken, indem sie ihre höchst unterschiedlichen Regelungen untereinander abstimmten und Menschen aus Drittstaaten den EU-Bürgern gleichstellten. Das ist für Lehrer derzeit aber nicht in Aussicht, wie eine Umfrage der taz in zehn Bundesländern ergibt. Auch eine hohe Beamtin der Bundesregierung ist überzeugt: "Für Lehrer ändert sich mit dem Gesetz nichts."
Ob sich die Bundesländer zumindest über einen besseren Zugang für Erzieherinnen verständigen, ist derzeit noch offen. Die Erzieherin Natalia Denk hat sich auf eigene Faust durchgekämpft: Sie hat drei Praktika und ein Kolloquium absolviert, eine Facharbeit darüber verfasst, wie Kleinkinder künstlerische Prozesse verarbeiten, und sie paukt seit vier Jahren Deutsch.
Nur noch eine Prüfung, die sie im Februar absolvieren will, steht zwischen ihr und dem kleinen Deutschen Sprachdiplom. Die Senatsbehörde Berlin teilte ihr im Sommer 2010 bereits aufmunternd mit: "Sobald Sie diesen letzten Nachweis eingereicht haben, steht einer Gleichstellung mit einer staatlich anerkannten Erzieherin nichts mehr im Weg."
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