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Archiv-Artikel

FÜR DIE TÜRKISCHEN FRAUEN WÄRE EIN NEIN AUS BRÜSSEL FATAL Konservative in der Identitätskrise

Nach dem Motto „Unsere Frauen gehören uns“ hat ein Teil der regierenden AKP bei der Beratung eines neuen Strafgesetzbuches in der Türkei darauf bestanden, Ehebruch weiter zu kriminalisieren. Im Reformmarathon der Türkei auf dem Weg in die EU ist es das erste Mal, dass eine relevante Gruppe innerhalb der AKP damit demonstrativ Reform-Forderungen aus Brüssel zurückweist.

Für den konservativsten Teil der AKP ist es eine Sache, wenn die EU Minderheitenrechte für Kurden, Bestrafung von Folterern oder den Rückzug des Militärs aus der Politik fordert. Das betrifft den öffentlichen Raum, und es sind deshalb diskutable Forderungen, die teilweise durchaus ihre Zustimmung finden. Etwas anderes ist es in den Augen dieser Religiösen, wenn Brüssel sich in ihre Familienangelegenheiten einmischen will. Als nichts anderes empfinden diese „Mullahs“ das Ansinnen der EU, die Gleichberechtigung der Geschlechter voranzutreiben und deshalb zwar einen Straftatbestand „Vergewaltigung in der Ehe“ ins Strafgesetzbuch einzuführen, Ehebruch aber zu dulden (und nur im Zivilrecht zu behandeln).

Der Streit um die Kriminalisierung von Ehebruch geht weit über die Frage hinaus, ob eheliche Untreue ein Fall für den Staatsanwalt werden soll. Es zeigt vielmehr, dass ein Teil der türkischen Gesellschaft sich in allen Fragen, die unterhalb der Gürtellinie angesiedelt sind, durch den Reformprozess in ihrer Identität bedroht sieht. Was geht die in Brüssel an, was ich mit meiner Frau mache, ist die Haltung, die hinter dem Aufstand innerhalb der AKP steht. Diese Haltung kann auch nicht auf Anordnung von oben gelöst, sondern höchstens zugedeckt werden. Die Voraussetzung zu ihrer Überwindung ist die Fortsetzung der Debatte und die Veränderung der sozialen Realität.

Für die Frauen in der Türkei wäre es deshalb die schlechteste Entscheidung wenn Brüssel den „Mullahs“ die rote Karte zeigt und Beitrittsverhandlungen ablehnt. Nur die Veränderung der Verhältnisse – und die ändern sich am nachhaltigsten durch die fortgesetzten Integrationsanstrengungen – ändern auch das Bewusstsein. JÜRGEN GOTTSCHLICH