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FLORA ET LABORA

■ Eine Führung im Botanischen Garten

Sonntags, zehn Uhr morgens, trifft man sich am Eingang Königin-Luise-Straße. Man wartet, schätzt sich ab, vertieft sich in eine riesige Königskerze oder raucht etwas abseits eine Zigarette. Plötzlich bilden sich konzentrische Kreise um einen Herrn im Arztkittel. Dr. Hakki spricht heute über die Schlingpflanze und zeigt Beispiele im Botanischen Garten. Dr. Hakki ist zart und weißhaarig und ähnelt Prof. Ambrosius im „Tanz der Vampire“. „Schlingpflanzen sind zum Beispiel der Efeu oder die Liane“, erklärt er. Es sind Kletterpflanzen, die fest im Boden wurzeln, eine Stütze suchen, finden, ergreifen, umwinden und dann Blätter und Blüten bilden.

Etwa 20 Teilnehmer streben fächerförmig zur morphologischen Abteilung. An der Pergola machen wir Halt. Dort sehen wir die Spreitzkletterer, Wurzelkletterer, Winde- und Rankepflanzen. Einige sind berührungsempfindlich, haben Haken und Geißeln und können bis zu 300 Meter lang werden. „Sie sind die Sprinter unter den Pflanzen.“

Fleißig machen sich die Zuhörer Notizen, betasten auf Geheiß den Hopfenschlingarm, stecken die Nase in die Wicke (Lathyrus odoratus) und umkurven den Wein. Man staunt: Der Efeu hat die Heterophyllie, die Bohne frönt dem linken Windeprozeß, der Hopfen ist Rechtswinder, und jeder hat einen Suchkreis und eine Kontaktkrümmung: Beschreibungen wie aus dem Psychologiebuch. „Schlingpflanzen sind Kinder der Dunkelheit.“ Dr. Hakki arbeitet an der Verbindung zum Menschen. Auch Pflanzen haben eine Persönlichkeit.

Soviel Menschliches verführt zum Lächeln, eine junge Frau hat wiegende, fast autistische Bewegungen, auch bei Pflanzen muß es diesen Kindcheneffekt geben. Es werden fragen zur Aufzucht, Pflege, Gießproblematik gestellt. Die Botanikfans sind wie alle Berliner Hobbyisten langweilig: Ob man zu einer Ausstellungseröffnung der „Gelben Musik“ geht und den Bleichgesichtern mit der dezenten, zeitlosen Kleidung und dem feinen Zwiegespräch begegnet, oder beim Super-8-Festival auf die stumpfen Augen der Fokusliebhaber stößt, die alles und nichts beklatschen - oder auf dem Winterfeldtplatz einkauft, wo jeder halbwegs anständige Mann ein Baby trägt, den Rucksack voll Grünzeug - überall dieses Mittelmaß und diese uniformierungsbedürftige Anpassung. Die Botanikfans bevorzugen praktische Kleidung, festes Schuhwerk und wettergegerbte Gesichter.

Der Vortrag von Dr. Hakki dauert jetzt über eine Stunde. Wir stehen vor einem einfachen Efeu und sprechen erneut über die Heterophyllie. Ich finde die europäischen Schlingpflanzen inzwischen recht langweilig. Am einfallsreichsten ist wohl die Liane: Sie ist ein Würger und stranguliert mit Vorliebe Bäume. Aber sie gedeiht nur in den Tropen.

U.K.

Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-Dahlem. Kostenlose Führungen im Botanischen Garten: Treffpunkt sonntags zehn Uhr, am Eingang Königin-Luise-Straße.

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