FLIEHEN – ABER WOHIN?: Fenster zu im Haus Österreich
■ Wo früher der Eiserne Vorhang war, verläuft heute eine grüne Grenze. Und wer damals als Flüchtling begrüßt wurde, gilt heute als „illegaler Grenzgänger“. Über das Österreichische Bundesheer im Einsatz berichtet OLIVER TANZER
Freilich könnte man die Zäune wieder aufbauen. Nur: Niemand will sie. Auch Heeresstabchef Wolfgang Jilke nicht, der in Eisenstadt, 60 Kilometer östlich von Wien, den Einsatz seiner Soldaten an der Grenze zu Ungarn überwacht. Zäune, Grenzen- „unmöglich“, sagt er. „Überhaupt, jetzt, in dieser Zeit, wo Europa doch im Aufbruch lebt.“ Und außerdem: „Sie würden ja Löcher schneiden“, in den Zaun; sie, das sind die Flüchtlinge, die das „Haus Österreich“ über das Fenster – die grüne Grenze zu Ungarn – betreten wollen und nicht durch die Tür, also über die Grenzübergänge, sagt der Offizier.
In den vergangenen zwei Jahren hatten Ungarn und die Tschechoslowakei den „Eisernen Vorhang“, den Stacheldrahtverhau an der Grenze zu Österreich, abgebaut. Seit September 1990 ist an dieser Linie das Österreichische Bundesheer aufgezogen und überwacht die 200 Kilometer lange Grenze zwischen Österreich und Ungarn.
Ziel: Abhaltung illegaler Grenzgänger. Truppenstärke: 2.500 Mann. Haus Österreich an der Ostfassade: 2.800 wollten schon durch das Fenster, bezahlten dafür im Durchschnitt 2.000 Dollar pro Person an Schlepper, wurden von Grundwehrdienern gefaßt, bemitleidet – und vom Innenministerium wieder zurückgeschickt.
Der Grundwehrdiener, den man „Buckel“ nennt, schiebt Wache auf einem Weinberg und verflucht den Westwind. Er bläst von morgens bis abends – „davon bekommt man Ohrenweh“. Die Rumänen, jaja, arme Schlucker. Letzte Woche haben sie vier aufgegriffen, dreckig, stinkend, abgemagert, in den Wäldern zwischen Sopron und Klingenbach – leid hätten sie einem tun können. Da haben die Grundwehrdiener Geld gespendet, die ganze Einheit, 180 Mann, 18- und 19jährige, „für ein paar Decken, weil's in den Flüchtlingslagern auch so kalt ist“.
Im Dezember 1989, nach dem Sturz des Ceausescu-Regimes, versuchten meist Angehörige der 200.000 Rumäniendeutschen auszuwandern. Einzige offene Grenze: Ungarn-Österreich. Effekt: Platznot in den Flüchtlingslagern. Im März 1990 weigerte sich die Ortschaft Kaisersteinbruch im Burgenland, 800 Flüchtlinge aufzunehmen. Tenor: Wir sind nicht ausländerfeindlich, aber warum müssen die zu uns? Innenminister Löschnak erließ die Visumpflicht für Rumänen. Aus anzunehmenden „Flüchtlingen“ wurden abzulehnende „Wirtschaftsflüchtlinge“.
Der vormals legale Ansturm verwandelt sich für die meisten in einen illegalen. „Wir lachen trotzdem“, versichert der Soldat. So wie damals, in der Nacht, als ein paar Tiroler Kameraden auf „Rumänenpirsch“ waren und vier gefangen haben, die nicht bleich, sondern schwarz waren. Schwarzafrikaner halt. Soldatenhumor.
Bei der Einsatzleitung hat man bisher Menschen aus fünfzig Nationen gezählt, „die rüber wollten“. Von Afghanistan bis Zypern, von China bis Vietnam und Senegal. Als 1989 die DDR- Flüchtlinge kamen, war „alles noch ein wenig toleranter“ und die Grenze ein bißchen offener. 30.000 Menschen benutzten damals ihren Urlaub im Bruderland Ungarn zur Flucht in den Westen – und konnten den Grenzstreifen fast ungehindert passieren. Mehr noch: „Da sind die burgenländischen Bauern noch über die Grenze gegangen und haben die Deutschen herübergeholt“, sagt der Grenzkommandant.
Mit den Rumänen verfährt man anders. In letzter Zeit wurden Grenzgänger häufig mit Bißverletzungen an Händen und Beinen aufgelesen. Ihren Aussagen zufolge wurden sie auf der anderen Seite mit Hunden gehetzt. Der Offizier denkt darüber nach, „ob das so seine Richtigkeit hat, mit den Rumänen so umzugehen, und daß man die nicht rüberläßt, wo die Revolution dort doch eine Lüge war – und die jetzt dort schon wieder unterdrückt werden“. Was nichts an der Lage ändert: „Ich habe meine Befehle, und die führe ich auch aus.“ Jüngster Befehl: Das Haus Österreich soll bis Ende 1991 vom Bundesheer geschützt werden.
Oliver Tanzer wurde in der „Stahlstadt“ Linz geboren und studierte Kunstgeschichte. Mit seinen 23 Jahren gehört er zu den jüngsten Redaktionsmitgliedern des östereichischen „Standard“.
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