Extremismus-Debatte: Die religiöse Rückkopplung
Wissen ist mühsam, aber den Schlüssel zum islamischen Extremismus hat die Konfliktforschung. Ein Essay über den Missbrauch des Religiösen nach dem 11. September 2001.
Es ist schon beeindruckend zu sehen, welchen öffentlichen Raum die Religion mittlerweile wieder einnimmt. Vor zwanzig Jahren noch gab es in Rathäusern besondere Büros für Kirchenaustritte. Wegweiser führten zu ihnen, eigens angestellte Beamte saßen darin. Aber Totgesagte leben bekanntlich länger, und wie die FDP kam die Religion aus einem unglaublichen Umfragetief heraus.
Martin Mosebachs Diskurse sind legendär, Sibylle Lewitscharoff bejubelte die Zeitlosigkeit der neuen Bücher im Verlag der Weltreligionen, ihre handschmeichlerischen Qualitäten und das Vertrauen, das sie ihr einflößten. Der hessische Kulturpreis ging im Gehakel religiöser Empfindlichkeiten unter, wie man sie sich seit Jahrhunderten nicht anders vorgestellt hat. Atheistische oder agnostische Positionen standen nicht zur Debatte. Und schließlich ging die Initiative Pro Reli an den Start, um Religionsunterricht in Berlin wieder einzuführen, damit die Kinder die Grundlagen ihrer eigenen Überzeugung kennenlernen und damit das eigentliche Fundament ihrer ethischen und moralischen Vorstellungen. Camus ist passé.
Und zwar nicht nur in Feuilletondebatten. Was noch vor zehn Jahren vollkommen undenkbar war, erlebte ich jüngst in einer Kneipe in Prenzlauer Berg unter Schauspielstudenten. Zwei von ihnen feierten ihren Abschluss, also den Aufbruch ins ganz Ungewisse. Die Feier war schon vorangeschritten, man erklärte mir individuelle Schlachtpläne für die anstehenden Bewerbungskampagnen. Auf mein Zitat von Berti Vogts, wonach der Talentierte, der sehr hart arbeite, in unserer Gesellschaft immer noch jede Menge Glück brauche, um seine Ziele zu erreichen, entgegnete eine junge Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte: "Das glaube ich nicht." - "Nein?", fragte ich: "Und was glaubst du?"
Ich befürchtete eine vertrackte Antwort oder eine schlichte, etwa dass Qualität sich schon durchsetze. Sie strahlte aber zum ersten Mal an diesem Abend, als sie prompt sagte: "Ich persönlich glaube an Gott." Was das heiße, wollte ich wissen, und sie sagte: "Er wird mir beistehen, dann geht alles gut."
Ich zahlte, grüßte und ging. Draußen schlug ich den Mantelkragen besonders hoch. Ein junger Mensch hatte die Diskussion über das Leben, das wir führen, über die Chancenverteilung in unserer Gesellschaft, ein Gespräch, das hätte bereichernd sein können, in dem wir Erfahrungen, Einsichten und Ansichten über den Altersunterschied hinweg ausgetauscht hätten, abgeschnitten. Sie ist in einer anderen Welt aufgewachsen als ich. Was zwischen uns liegt? Das Attentat vom 11. September 2001. Das Problem mit dem Attentat: Es überwältigte. Man musste nach ihm weiterleben, nur wie? Den Fernseher ausmachen. Von einer neuen Epoche sprechen. Scheidungs- und Hochzeitsraten in die Höhe treiben. Aber nichts reichte an die Kraft und Großartigkeit der Terroristen heran.
So was kann Religion?
Beeindruckend!
Es kam zu großen Fehlreaktionen, zum Beispiel von Stockhausen (das Attentat sei das größte denkbare Kunstwerk) oder Susan Sontag (es habe Mut erfordert). George Bushs Ankündigung des Krieges gegen den Terror kopierte die Verve, projizierte den vermeintlichen Heroismus auf sich selbst, griff aber ins Leere: Jeder, wirklich jeder Mensch weiß, dass ein solcher Krieg nicht zu gewinnen ist.
Natürlich machte man längst Politik. Man lenkte auf den Irak ab, den alten Feind, der von George Bush senior nur deshalb nicht geschlagen wurde, weil man ihn noch als Gegenspieler des Iran benötigte. Colin Powell hatte das längst in seiner bestsellernden Autobiografie beschrieben. Einfach hinnehmen konnte man das Attentat ja nicht. Schade, dass Bin Laden in Tora Bora nicht gefasst wurde. Ein Verschwörungstheoretiker, der zu viel über Pearl Harbor oder Coventry gelesen hat, wer hier Böses denkt. Aber dass dieser Mechanismus - Religion zu sagen und Politik zu meinen - bis heute der große Schrittmacher ist: ganz schlecht.
Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter etwa meinte, das Böse sei nicht mit sozioökonomischen Modellen zu erklären. Er zog sich nach dem Attentat für Monate in seine Bibliothek zurück, wo er den Islam studierte. Schließlich waren die Attentäter Muslime und erwarteten als Belohnung himmlische Jungfrauen. Was de Winter in den zurate gezogenen Schriften fand, motivierte ihn: "Im Islam sind Abraham und Mose keine Juden, sondern Muslime (dasselbe gilt für Jesus, der auch ein muslimischer Prophet ist). In den heiligen Texten des Islam sind die Hauptfiguren jüdischer Mythologie folglich frühe Muslime, und das ,Missverständnis', dass sie Juden seien, gilt als direkte Folge der Verzerrung ihrer Botschaft durch schlaue Juden." In seiner Bibliothek lesend und studierend wurde ihm bewusst, dass "das heutige Israel von den islamischen Ländern nie als gleichwertig akzeptiert werden kann".
De Winter schrieb nun einen Roman, in dem Israel im Jahr 2024 ein bedrohter Reststaat ist. An seinen Grenzen trennt ein Scanner anhand von Chromosomen Menschen in Juden und Nichtjuden, um über freien Eintritt zu entscheiden. Aufgeregt hat sich über diesen Semitismus niemand.
Dabei hat der 11. September 2001 nichts mit dem Islam zu tun, das über reinen Zufall hinausgeht. Der Islam ist nur ein Vorwand, und nützliche Antworten auf die Frage nach den Gründen des Attentats findet man ganz entgegen der Grundannahme de Winters nicht in alten Schriften, die sicher auch belegen, dass Frankreich Deutschlands Todfeind Nummer eins ist und Polen Nummer zwei. Man findet sie in der jüngsten Konfliktforschung. Unbemerkt von Debatten über Phobien und Rassismus arbeitet sie an spannenden Thesen. So wird etwa ein Zusammenhang zwischen mangelnden Aufstiegschancen junger Männer und ausbrechender Gewalt untersucht.
Zwar ist eine strenge Korrelation zwischen Demografie und Konflikt noch nicht gesichert, auffällig ist aber, dass Gewalt ansteigt, wenn es sehr viele Männer im Alter zwischen 16 und 25 gibt. Islamische Länder verfügen derzeit überproportional häufig über einen Jugendüberschuss. Und es gibt es einen kuriosen Effekt: Gesellschaften mit einer hohen Aids-Rate sind resistenter gegen Konflikte als andere, weil die höheren Positionen häufiger vakant sind. Islamische Länder weisen wegen ihrer strikten Sexualmoral eine niedrige Aids-Rate auf.
In Deutschland ist die Demografie, so beklagen die Forscher, wegen ihres Missbrauchs durch die Nazis noch immer diskreditiert. Das ist schlecht. Denn man vermutet sogar, dass eine Bildungsexpansion die Korrelation zwischen Demografie und Konflikt noch verstärkt: "Übergroße Jugendkohorten mit guter Ausbildung lassen sich von Knappheiten in der Gesellschaft noch stärker frustrieren als unausgebildete", schreibt Steffen Kröhnert vom Berlin Institut: "Bildung steigert nicht nur den Wert der Arbeitskraft, sondern auch die Erwartungen an eine entsprechende soziale Position."
Das ist grob gesprochen, denn Logik und Statistik sind alles andere als einfache Disziplinen. Verifikation ist noch nötig. Die These bietet aber doch eine andere und hilfreichere Denkfigur für Mohammed Atta als die religiöse Verortung. Atta legte in Hamburg übergroßen Wert darauf, besser Deutsch zu sprechen als die Deutschen. Ein kleinlicher Wunsch, den er übrigens mit Maxim Biller gemein hat. Wir haben das Glück, dass der Künstler Biller nicht nur über genügend Humor verfügt, um in diesem Wunsch herumzubohren, sondern auch über genügend Intellekt, um festzustellen, dass der Wunsch beim besten Willen nicht auf sein Judentum zurückzuführen ist: Genau diese Erkenntnis schützt ihn vor der Eskalation.
Für den Terroristen Atta galt das nicht. Er war nicht so intelligent, wie er meinte, dachte und wollte. Sein Islam, oder was er dafür hielt, kam ihm gerade recht, nicht mehr und nicht weniger. Man sollte schon aufpassen, dass man nicht auf ihn reinfällt oder wie Leon de Winter gar seinen Windschatten nutzt. Denn politisch gibt es überhaupt nichts zu diskutieren: Es herrscht Religionsfreiheit und Minderheitenschutz, beides hat sich der freiheitlichen Grundordnung unterzuordnen. Für Burkaverbote und Beleidigungen gibt es rechtsstaatliche Mittel zur Meinungsfindung. Es ist ja gerade die Stärke der offenen Gesellschaft, hierfür Prozesse anzubieten, statt rigide zu urteilen. Mit Militanz haben sie wenig zu tun. Was auch immer in Schriften zu finden und in Schlachtgesängen zu hören ist: Im Stadion randaliert stets eine Minderheit. Ein Attentat ist kein Kunstwerk und keine Mutprobe und auch kein Krieg, sondern ein Attentat. Ein Verbrechen. Wie so oft, wurde es auch in diesem Fall aus niedrigen Beweggründen verübt, darunter Größenwahn und Überdruss.
Der Jugendüberschuss der islamischen Länder geht übrigens bald zu Ende, wenn Zahlen und Theorie stimmen. Außerdem fand ja Pro Reli auch keine Mehrheit, die Weltreligionen sind keine Bestseller, denn vielleicht müssen sich Bücher heute Vertrauen doch eher erwerben, statt es einzuflößen. Und Martin Mosebach stellte fest, dass die meisten Menschen vom Papst vor allem sein Kondomverbot kennen. Die religiöse Rückkopplung des 11. September ist daher wohl doch nur eine so vorübergehende Erscheinung, die in den Nervenbahnen des Zeitgeistes verebbt wie ein Rausch. Gut so: Die äußerst spannenden Ergebnisse der Konfliktforschung versteht man eh nüchtern am besten.
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