Exrichterin über Sicherungsverwahrung: "Wir bewegen uns in einer Grauzone"
Verhält sich Deutschland weiter menschenrechtswidrig? Renate Jaeger, Exrichterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, über die Renitenz der deutschen Justiz.
taz: Frau Jaeger, stellen Sie sich vor, in Ihrem Nachbarhaus zieht ein Mann ein, der gerade aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurde. Wie reagieren Sie?
Renate Jaeger: Ich würde sicher etwas nachdenklich. Doch dann würde ich mir sagen, dass wohl auch 2011 die meisten schweren Straftaten von Ersttätern begangen werden. Die Fixierung der öffentlichen Sorge auf eine kleine Gruppe von Haftentlassenen finde ich nicht sehr rational.
Wenn Sie aber zudem erfahren, dass der Mann immer noch als gefährlich gilt und nur aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte freigelassen wurde?
RENATE JAEGER 70, ist eine der wichtigsten deutschen Juristinnen. Von 2004 bis 2010 war sie deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Davor war sie Richterin am Bundesverfassungsgericht und am Bundessozialgericht. Seit Jahresbeginn arbeitet sie als Schlichterin der deutschen Rechtsanwaltschaft in Berlin.
Vor dem Bundesverfassungsgericht hat am Dienstagvormittag die mündliche Verhandlung über die sogenannte Sicherungsverwahrung von Sexual- und Gewalttätern begonnen. Zwei inhaftierte Kläger berufen sich auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, der die rückwirkende Aufhebung der früher auf zehn Jahre begrenzten Sicherungsverwahrung als unzulässig bezeichnet hatte.
Auf dem Prüfstand steht zudem die ebenfalls von Straßburg kritisierte nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung. Gegen sie haben zwei weitere Täter Verfassungsbeschwerde erhoben. Folgt Karlsruhe den Straßburger Vorgaben, müssten womöglich mehr als hundert gefährliche Kriminelle auf freien Fuß gesetzt werden. Mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird erst in einigen Monaten gerechnet. (afp)
Worauf wollen Sie hinaus? Ob ich unser Urteil bereue? Nein, ich bereue es nicht. Außerdem hatte der Gerichtshof keine Wahl. In Deutschland wurden Menschen länger in Haft gehalten als im Strafurteil stand. Das verstieß gegen das Rückwirkungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wer zu maximal zehn Jahren Sicherungsverwahrung verurteilt wird, muss darauf vertrauen können, dass zehn Jahre nach Verbüßung der Strafe die Freiheitsentziehung auch wirklich endet. Dass Deutschland 1998 die 10-Jahres-Frist auch für bereits einsitzende Gefangene aufgehoben hat, mussten wir deshalb zwingend beanstanden.
Damit haben Sie in Deutschland einen ganz schönen Wirbel verursacht. Die Politik und viele Richter mauern. Von über hundert Betroffenen wurden erst 36 entlassen. Rund 70 Personen sitzen weiter rechtswidrig in Haft. Müssen diese alle in Straßburg klagen, um rauszukommen?
Nein. Deutschland ist verpflichtet, die Menschenrechtskonvention so anzuwenden, wie sie der Straßburger Gerichtshof auslegt. Das heißt, wer konventionswidrig inhaftiert ist, muss entlassen werden, auch wenn es für den jeweiligen Einzelfall noch kein Urteil aus Straßburg gibt.
Wer muss die Entlassung anordnen? Die für den Strafvollzug zuständigen Behörden der Länder. Und wenn diese untätig bleiben, die Gerichte.
Viele Gerichte in Deutschland sagen, sie könnten die Entlassung nicht anordnen, weil diese gegen das deutsche Strafgesetzbuch verstoße. Der Bundestag müsse das Gesetz vorher ändern. Zu Unrecht?
Einige Gerichte haben doch Entlassungen angeordnet - es geht also durchaus. Aber wenn der Gesetzgeber erforderlich sein sollte, dann muss er eben tätig werden. Es kommt hier weniger auf den Weg als auf das Ergebnis an. Es kann ja nicht sein, dass jeder den schwarzen Peter an den anderen weiterreicht, weil alle Angst vor den Boulevardmedien haben.
An diesem Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die unterbliebenen Entlassungen. Kann es den Knoten durchschlagen?
Ich hoffe es. Es ist immer besser, wenn Justiz und Politik vor Ort eine Lösung finden, als wenn "Europa" von außen Druck machen muss.
Andere hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht das Straßburger Urteil kritisiert und Haftentlassungen verhindert. Es heißt, der Straßburger Gerichtshof habe übersehen, dass der Staat auch den Schutz von Leben und Gesundheit seiner Bürger garantieren muss. Stimmt das?
Das hat der Gerichtshof natürlich nicht übersehen. Aber die Freiheit vor willkürlicher Verhaftung hat in der Geschichte der Menschenrechte schon seit Jahrhunderten eine zentrale Bedeutung. Die Bestimmungen der Europäischen Konvention für Menschenrechte sind deshalb abschließend und dürfen nicht unter Hinweis auf vage staatliche Schutzpflichten ausgehebelt werden.
Was wäre, wenn Karlsruhe aus dem Grundgesetz tatsächlich Schutzpflichten ableitet, die die Europäische Menschenrechtskonvention verdrängen?
Das hieße ja, dass die Konvention in Deutschland verfassungswidrig wäre - während alle anderen 46 Staaten des Europarats mit ihr zurecht kommen. Dann müsste Deutschland aus der gemeinsamen Konvention aussteigen und könnte in Europa andere Staaten kaum noch glaubwürdig zur Einhaltung der Menschenrechte mahnen. Das wird wohl niemand ernsthaft wollen.
Als Alternative hat der Bundestag jüngst das Therapie-Unterbringungsgesetz beschlossen. Danach kann eine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung verhindert werden, wenn die Person noch gefährlich und zugleich psychisch gestört ist. Was halten Sie davon?
Der Straßburger Gerichtshof prüft nicht abstrakte Gesetze, sondern konkrete Fälle. Es kommt also sehr darauf an, wie das Gesetz in der Praxis angewandt wird. Grundsätzlich erlaubt die Konvention die zwangsweise Unterbringung von psychisch Kranken, die eine abstrakte Gefahr für andere darstellen.
Kritiker halten es für ein Kennzeichen von Diktaturen, wenn unliebsame Personen mal schnell als psychisch Kranke weggesperrt werden. Wie beurteilen Sie das?
Der Einwand ist ernst zu nehmen, gerade angesichts der geschichtlichen Erfahrungen in Europa. Der Gerichtshof wird hier sicher sehr genau hinschauen. Aber ich finde das Gesetz nicht per se empörend.
Wer in Sicherungsverwahrung saß, war bei der Tat schuldfähig und nun soll er plötzlich psychisch gestört sein. Ist das nicht ein billiger Trick?
Nein. Wenn man sich die meist lange Karriere von Sicherungsverwahrten anschaut, dann fällt auf, dass viele bei ersten Verurteilungen durchaus als psychisch krank eingestuft wurden und erst später als schuldfähig. Das mag etwas mit dem jeweiligen Zeitgeist zu tun haben oder mit den Interessen von Gutachtern. Viele arbeiten ja in psychiatrischen Kliniken und wollten womöglich verhindern, dass so schwierige Personen in ihre Einrichtung kommen. Wir bewegen uns hier offensichtlich in einer Grauzone.
Was halten Sie von der Reform der Sicherungsverwahrung, die der Bundestag zum Jahresende beschlossen hat?
Ich finde es gut, dass die Sicherungsverwahrung künftig auf Gewalt- und Sexualstraftäter konzentriert wird. Mit notorischen Dieben und Betrügern muss die Gesellschaft anders umgehen. Das war allerdings keine Forderung des Gerichtshofs. Er hat erst vor wenigen Wochen die Sicherungsverwahrung eines Einbrechers akzeptiert.
Die Justizministerin ist besonders stolz darauf, dass die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gestrichen wurde.
Wie der Gerichtshof jüngst festgestellt hat, verstößt sie gegen die Menschenrechtskonvention, weil hier die Freiheitsentziehung erst lange nach dem Strafurteil angeordnet wird. Allerdings ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Deutschland bisher noch nicht wirklich abgeschafft. Für Taten, die bis Ende 2010 stattfanden, kann sie noch einige Jahre lang angeordnet werden. Hier muss der Bundestag wohl nachbessern.
Große Bedeutung wird künftig die vorbehaltene Sicherungsverwahrung haben, Sie kann auch für Ersttäter im Urteil angedroht werden, während die endgültige Entscheidung über die Verwahrung erst am Haftende fallen soll. Ist das der neue Königsweg?
Nein. In rechtlicher Hinsicht könnte der Gerichtshof auch hier monieren, dass der endgültige Beschluss über die Freiheitsentziehung erst lange nach dem Strafurteil fällt. Ob die bloße Androhung im Urteil ausreicht, um der Konvention zu genügen, halte ich für eine offene Frage. Aber auch in der Sache gefällt mir dieses Modell nicht. Es besteht die Gefahr, dass viel mehr Menschen in Sicherungsverwahrung landen als früher, weil die Verwahrung nun häufig angedroht wird und dann ein Automatismus zur endgültigen Anordnung entsteht.
Welches Modell bevorzugen Sie?
Die perfekte Lösung hat niemand. Aber mich beeindruckt, dass in Skandinavien viel intensiver mit Häftlingen gearbeitet wird. Trotz kürzerer Strafen und meist ohne Sicherungsverwahrung ist dort die Rückfallgefahr relativ niedrig.
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