Expertenbericht zum Antisemitismus: Schulhof-Schimpfwort "Jude"
Deutschland fehlt eine Gesamtstrategie im Kampf gegen den alltäglichen Antisemitismus. Zu diesem Schluss kommt der erste Bericht einer Expertenkommission.
BERLIN taz | Es ist der erste Bericht des noch unter dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) einberufenen "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus". Und die Expertise hat es in sich, trotz ihres nüchternen Tons. Denn das Fazit des Gremiums lautet: "Eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland existiert nicht."
Der bisher noch unveröffentlichte Bericht liegt der taz vor. Er soll an diesem Mittwoch, dem Jahrestag der Judenpogrome vom 9. November 1938, dem Bundestagspräsidenten übergeben werden.
Nach einem Rückgang Mitte des vergangenen Jahrzehnts seien antisemitische Einstellungen in den letzten Jahren wieder angestiegen, heißt es in dem Bericht. Von einer "tiefen Verwurzelung von klischeehaften Judenbildern und antisemitischen Einstellungen in der deutschen Kultur und Gesellschaft" ist dort die Rede. Man beobachte eine "bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitete Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken". Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland seien zumindest latent antisemitisch, heißt es in der Expertise.
Ähnliches haben zwar auch schon frühere Studien festgestellt. Doch das Verdienst des Expertengremiums liegt darin, auf 210 Seiten einen Überblick darüber zusammengetragen zu haben, wie und wo sich heute Antisemitismus auch jenseits offen judenhassender rechtsextremer Milieus beobachten lässt: in Schulen und Fußballvereinen, in der Freiwilligen Feuerwehr, in Leserbriefspalten der Zeitungen, am Stammtisch, in sozialen Netzwerken im Internet, aber auch in Kirchen oder unter manchen Linken und Globalisierungskritikern sowie unter Migranten.
So gehöre auf den Schulhöfen "Jude" als Schimpfwort "vielerorts fast schon zum Allgemeingut", und vor allem in den unteren Ligen seien Beleidigungen jüdischer Spieler und Angehöriger jüdischer Mannschaften Teil des deutschen Fußballalltags. "Sätze wie 'Juden gehören in die Gaskammer', 'Auschwitz ist wieder da' und 'Synagogen müssen brennen' sind bei Wettkämpfen in der Regionalliga keine Seltenheit", heißt es in dem Bericht.
Scharfe Kritik an Schulen
Dem "Expertenkreis Antisemitismus" unter Leitung des Londoner Zeithistorikers Peter Longerich gehören renommierte Wissenschaftler an, aber auch Praktiker von Initiativen gegen Antisemitismus sowie ein aktueller und ein ehemaliger Verfassungsschützer.
Scharf kritisiert wird in ihrem nun vorgelegten ersten Bericht der Umgang der Schulen mit dem Antisemitismus. Dort werde das Thema fast nur mit Bezug auf den Holocaust behandelt. Damit erscheine der Antisemitismus als ein "ausschließlich den Nationalsozialisten zuzuordnendes Phänomen, das 1933 quasi aus dem Nichts erschien und 1945 wieder verschwand".
Viele Lehrer hätten zudem oft hohe moralische Erwartungen von ihren Schülern und verlangten von ihnen eine große Betroffenheit. Diese Haltung überfordere die Schüler und könne zu einer Abneigung nicht nur gegenüber dem Thema NS-Geschichte, sondern auch gegenüber Juden führen - also einen "Antisemitismus wegen Auschwitz" erzeugen.
Nach Ansicht der Experten müssten Pädagogen jedoch viel stärker auf Themen eingehen, in deren Kontext sich heute antisemitische Einstellungen zeigen könnten, allen voran der Nahostkonflikt. Aber auch bei der Kritik am Kapitalismus von links gebe es mögliche "Anknüpfungspunkte für Antisemitismus" - etwa wenn gegen das Finanzkapital und gierige Wall-Street-Banker polemisiert wird. Einen genuin linken oder linksextremistischen Antisemitismus erkennen die Experten jedoch nicht.
Nicht nur die Schulen, sondern auch die Politik kommt in dem Bericht des unabhängigen Expertenkreises nicht nur gut weg. So wird kritisiert, dass bei den oft sinnvollen Modellprojekte gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus schon nach drei Jahren die Förderphase endet - mitunter genau dann, wenn die Initiativen gerade erst in Fahrt gekommen sind. Dies führe dazu, dass die Ergebnisse solcher vom Staat geförderter Modelle oft "nicht zur praktischen Umsetzung von Programmen führen, sondern in Mappen gepresst ungenutzt bleiben".
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