Experte über den Angriff auf Polizisten: „Es braucht Druck auf beide Seiten“
Balkan-Experte Džihić warnt nach dem Anschlag vor einer Eskalation zwischen Serbien und Kosovo. Vom Westen fordert er einen neuen Kurs.
taz: Am Sonntag haben Schwerbewaffnete gezielt Polizisten im Norden des Kosovo angegriffen, ein Polizist und drei der offenbar proserbischen Angreifer wurden getötet. Etwa 30 bewaffnete Männer verschanzten sich später in einem Kloster. Was wissen wir mittlerweile?
geb. 1976, ist Politikwissenschaftler und arbeitet am Österreichischen Institut für Internationale Politik (Oiip).
Vedran Džihić: Es ist noch immer nicht klar, wer dahintersteht. Was man eindeutig sagen kann: dass es eine professionell agierende, paramilitärische Gruppe war. Die Bewaffnung mit Panzerfäusten, die Vorgangsweise, alles war sehr professionell. Manche spekulieren, dass die Attentäter von der Söldnergruppe Wagner ausgebildet worden sein könnten. Dafür gibt es aber noch keine Belege.
Kosovos Regierungschef Albin Kurti und Serbiens Präsident Vučić wiesen sich gegenseitig die Schuld zu. Ist es denkbar, dass der Zwischenfall ohne politische Rückendeckung geschah, dass da eine Gruppe ein Eigenleben entwickelt hat?
Wir wissen, dass in der Vergangenheit jede serbische Aktion im Nordkosovo von Belgrad diktiert wurde. Vučić wirkte in seiner Pressekonferenz aber nicht so, als habe er die Kontrolle. Normalerweise kommuniziert er auf eine andere Art und Weise, aggressiver und gezielter. Vučić profitiert auch nicht von diesem Zwischenfall. Es gibt es zwei Lesarten: Dass entweder eine Gruppe aus dem serbischen und/oder russischen Geheimdienst autonom gehandelt hat, um Vučić zu schwächen. Oder aber dass die Führung in Belgrad sehr wohl involviert war. Dass sie vielleicht eine kontinuierliche Bewaffnung aufbauen wollte, der Plan aber nicht aufgegangen ist und es zu einer früheren Eskalation kam. So oder so ist der Vorfall aber ohne serbische oder russische Geheimdienste nicht vorstellbar.
Welche Rolle spielt Russland?
Serbien und die Republik Srpska sind Einfallstore für russische Interessen auf dem Balkan. Man sieht seit einiger Zeit, dass Russland mithilfe von Geheimdiensten oder mit billigen Lokalpolitikern, die bereit sind, sich instrumentalisieren zu lassen – etwa Milorad Dodik (Präsident der Republik Srpska, Anm. d. Red.) oder der serbische Außenminister Ivica Dačić – versucht, Unruhe zu stiften. Russland will mit seiner hybriden Kriegsführung dem Westen Schaden zufügen. Und das geht nirgends leichter als hier. Für Moskau wäre es von Vorteil, Ressourcen des Westens zu binden und eine neue Flanke in Europa aufzumachen. Ich glaube nicht, dass Vučić daran beteiligt ist, aber eine Ebene unter ihm könnten ihm die Dinge entgleiten.
Warum hat Vučić daran kein Interesse?
Vučić kann es sich nicht leisten, in einen Konflikt mit dem Kosovo oder dem Westen zu geraten. In dem Moment, in dem er der serbischen Armee einen Marschbefehl geben würde, wäre Serbien international geächtet und von Geldern des Westens abgeschnitten. Das wäre rational betrachtet ein Selbstmord.
Welche Rolle spielt der Schauplatz der Ereignisse, das serbisch-orthodoxe Kloster Banjska? Dort hatten sich am Sonntag 30 der Angreifer verschanzt, bevor das Innenministerium in Pristina am Abend mitteilte, das Gelände sei nach „Kämpfen“ wieder unter Kontrolle.
Es hat im Vergleich zu anderen Klöstern der Region keine herausragende Bedeutung. Die Auswahl des Ortes war dennoch bewusst: Wenn die Albaner serbische Heiligtümer angreifen und stürmen, kann das die serbische Öffentlichkeit stärker mobilisieren und deutlich mehr Schaden anrichten. Auch der Kontext ist wichtig: Die serbisch-orthodoxe Kirche hat sich in den letzten Jahren immer sehr klar aufseiten des serbischen Präsidenten Vučić positioniert. Sie hat seine Propaganda mitgetragen, als die Spannungen zuletzt zunahmen.
Wie wird der Zwischenfall im Kosovo gesehen?
Die Grundstimmung ist, dass Serbien weiter provoziert. Man nennt ihn in einem Atemzug mit Angriffen auf KFOR-Truppen (Nato-Truppe im Kosovo, Anm. d. Red.) im Mai und der Entführung dreier kosovarischer Polizisten im Juni. Man sieht einen weiteren Schritt und einen Beweis, dass Russen und Serben offenbar gemeinsam agieren. Kurti sieht es als Bestätigung für seinen Kurs und verlangt mehr Druck vom Westen auf Serbien. Er stellt es so dar, als sei Kosovo der wahre Partner und nicht Serbien. Der Position des Kosovo kommt der Zwischenfall sicherlich entgegen.
Sie haben gestern Versäumnisse des Westens kritisiert. Was muss geschehen?
In einem ersten Schritt braucht es eine enge Zusammenarbeit von KFOR und EULEX (Rechtsstaatlichkeitsmission der EU im Kosovo) mit der kosovarischen Polizei. Man muss die Hintergründe des Angriffs aufklären. Notwendig wird auch eine Erhöhung der KFOR-Truppenstärke sein. Wir haben nicht nur eine politische, sondern eine Sicherheitskrise. Die Grenzen müssen verstärkt und kriminelle Gruppen intensiver überwacht werden.
Und auf politischer Ebene?
Klar ist, dass die Vermittlungsdiplomatie der EU gescheitert ist. Am Sonntag sind wir knapp an einer kriegerischen Entwicklung vorbeigeschrammt. Hätten mehr Paramilitärs mitgewirkt, hätten sich beide Seiten aufgeschaukelt. Und wäre am Ende serbische Polizei oder serbisches Militär einmarschiert, hätte man einen offenen Konflikt mitten in Europa. Auf serbischer Seite muss also das konstante Zünden abgebaut werden. Auf kosovarischer Seite wird man sich pragmatischer geben müssen, der serbischen Minderheit mehr Rechte einräumen und aktiver auf sie zugehen. Die gewöhnlichen Serben im Norden Kosovos sind die Leidtragenden, das darf man nicht vergessen. Der Westen müsste seine Appeasement-Politik gegenüber Vučić stoppen. Mit Rückblick auf die letzten Monate braucht es einen neuen Kurs, neuen Druck auf beide Seiten. Man muss auch die Verhandlungsführung ändern: Der EU-Sonderbeauftragte Miroslav Lajčák und EU-Außenbeauftragter Josep Borell haben Legitimität verloren. Die Region müsste zur Chefsache von Scholz, Macron oder anderen hochrangigen Politikern gemacht werden.
Die Gefahr für einen Flächenbrand bleibt also groß?
Angesichts der stark prorussisch agierenden Politik in Serbien und der Republik Srpksa, angesichts der russischen Geheimdiensttätigkeiten, angesichts der Spannungen zwischen Kosovo und Serbien, die so hoch wie nie zuvor in den letzten 20 Jahren sind, angesichts der auch sehr schlechten Sicherheitssituation in Bosnien ist die Gefahr sehr groß, dass ein Funke fliegt und man die Kontrolle verliert. Das wäre eine Riesenniederlage für die Region und für den Westen. Die Einzigen, die gewinnen würden, wären die Russen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier