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Experimentelle Musik aus FernostEinstürzende Neubauten auf chinesisch

In der chinesischen Kultur sind Gebrauchswert und Funktionalität hohe Werte. Umso rebellischer mutet die gänzlich untanzbare Musik des elektronischen Untergrunds in China an.

Auch den Klang des Kaffees nutzen die chinesischen Avantgardisten für ihre Elektroniksounds. Bild: dpa

Es war während der großen proletarischen Kulturrevolution 1966-1976, als der Gedanke auf die Spitze getrieben wurde, Kultur sei nur zulässig, wenn sie von gesellschaftlichem Nutzen ist. Ein Großteil der unliebsamen Intellektuellen wurde eingesperrt oder aufs Land verschickt. In ganz China waren nur noch Revolutionslieder und eine Handvoll Reformopern zu hören, in denen die Helden der Revolution gepriesen wurden. Bis heute können sie viele auswendig, die damals jung waren - egal ob sie die erzieherischen Ziele dieser Musik annahmen, ob sie sie mochten oder nicht. Andere populäre Musik war nicht zu haben.

Wenn man sich die soeben erschienene Compilation "1992-2008. An Anthology of Chinese Experimental Music" anhört, erscheint diese elende Zeit in der chinesischen Geschichte weiter weg denn je: In diesem Riesenreich, in dem es immer so sehr um Gebrauchswerte ging und auch heute jeder hübsch funktional nach großem Geld und steilen Karrieren strebt, gibt es derart abwegige Szenen? Ja, die gibt es, behauptet die bibliophil gestaltete und von informativen Linernotes begleitete Box. Sie enthält vier CDs mit Stücken von 48 Klangkünstlern nichtakademischen Hintergrunds aus dem chinesischsprachigen Raum inklusive Hongkong, Taiwan, Malaysia und Singapur. Kein einziges der Stücke aus den Jahren 1992-2008, ausgewählt vom Musiker, Komponisten, Produzenten, Labelinhaber und Veranstalter Dickson Dee aus Hongkong, hat auch nur eine Spur Zweckmäßigkeit.

Diese dysfunktionale Musik glänzt meist nicht mit Rhythmen oder Melodien. Weder ist sie tanzbar, noch kann man sie wegen der diversen irritierenden Schnalz- und Knackgeräusche als Soundtrack für Alltägliches wie Hausarbeit oder Autofahren einsetzen. Und ob sie von gesellschaftlichem Wert sein könnte - das hat sich die Mehrzahl ihrer Macher, die die Kulturrevolution wenn überhaupt nur noch im Kindesalter erlebt haben, wohl nicht einmal mehr gefragt. Allein, dass mit den elektronischen Sounds die Dekonstruktion der Hörgewohnheiten von Durchschnittsmenschen erreicht werden könnte - immerhin ein Anliegen vieler europäischer Avantgardemusiker -, ist in China schon deshalb ausgeschlossen, weil die winzige Szene noch hermetischer ist als andere vergleichbare Szenen in anderen Ländern.

Das muss auch so sein, würde zum Beispiel die Künstlerin Shenggy resolut argumentieren, die mit einem 2007 entstandenen Stück Noise auf der CD-Box vertreten ist: "Junggys decay" besteht aus einem Rauschen und Dröhnen, erzeugt von einem alten Korg-Analogsynthesizer, und ihrer völlig verzerrten, kreischenden Stimme. Anfang der Achtzigerjahre geboren, ist Shenggy eine typische Vertreterin der verwöhnten Einzelkinder, der Kinder der Öffnung Chinas, "die die Bitterkeit nie gekostet haben", wie die Älteren sagen - einer Generation von Individualisten und Egomanen, die sich weder für die große Politik interessieren noch die gegenwärtigen Funktionsmechanismen der Gesellschaft, in der sie leben. In behüteten Verhältnissen aufgewachsen, waren Shenggys Eltern nicht einmal vehement dagegen, als sie mit 17 Schlagzeugerin in Pekings einziger Mädchenband Hang On The Box wurde. Das war gewiss kein Tool zum Sozialaufstieg, den aber Bürgerkinder wie Shenggy auch nicht nötig haben. Nach zehn Jahren wurde Shenggy das in ihren Augen noch immer viel zu erfolgsorientierte Rebellionskonzept ihrer Band, das wackere Ansingen gegen traditionelle Geschlechterkonzepte und neuen Konsumismus in ihrem Land, zu langweilig.

Shenggy lernte den zwischenzeitlich nach Peking gezogenen Berliner Musiker Blixa Bargeld kennen und begann unter seinem Einfluss, vor allem Industrial-Music zu hören. Dank Internet ist Bargeld selbst in China leicht zu haben: Die ersten rasenden Krachplatten von Bargelds Band Einstürzende Neubauten eben, aber auch das verrückte englische Quartett Throbbing Gristle, Esplendor Geometrico aus Spanien. Shenggy schnitt sich die lustig wippenden Zöpfe ab, gründete das Krachprojekt White, sammelte auf Myspace mehr als 4.000 gleich gesinnte "Freunde". Und als ihr das immer noch nicht Anschluss genug war an die große, weite Welt, da zog sie nach London, wo sie heute als "Cosmic Lady" auftritt. Sie ist bei der Kunst für die Kunst angelangt, radikaler kann man sich vielleicht nur noch mit Punk verweigern. Als ich Shenggy einmal fragte, ob ihre Arbeit durch die alte Musik Chinas beeinflusst sei, da stellte sie mir die berechtigte Gegenfrage, ob deutsche Bands beim Komponieren etwa Bach und Beethoven im Sinn hätten.

Wer die CD-Box "An Anthology of Chinese Experimental Music" nach Tönen durchscannt, die typisch chinesisch sind, der wird also höchstens bei jenen Musikern fündig werden, die nicht in der Volksrepublik, im sogenannten "Mainland", leben und daher entweder auf Wurzelsuche sind oder sich in einer internationalen Gemeinschaft bewegen, in der es nicht leicht ist, besonders zu sein. Dazu gehört etwa Nelson Hiu, der auf Hawaii groß geworden ist und in Hongkong lebt. Er begleitet bei der Formation Dancing Stone mit der Flöte Ling Lees katzenartigen Gesang, der an die traditionelle chinesische Oper anknüpft. Dazu gehört auch der in Berlin lebende Musiker Wuwei, der die Sheng spielt, eine Art Mundorgel und Vorläuferin der Harmonika, die mehr als 3.000 Jahre alt ist.

Die Regel sind Experimente mit Traditionen wie diesen nicht. So beschreibt auch der 35-jährige Poet, Publizist, Soundbastler und Performer Yan Jun im einführenden Text dieser Box, wie Experimentalmusik in China rezipiert wurde. Anfang der Achtzigerjahre kamen mit den ersten Studenten aus dem Ausland Kassetten mit Rockmusik nach China, Anfang der Neunzigerjahre wurden immer mehr CDs und DVDs auf Chinas Straßen verkauft, die ein Loch im Booklet hatten - Ausschussware, die zu neuem Plastik recycelt werden sollte - darunter auch experimentelle Musik und Filme. Und dann kam das Internet. Chinas sorglose Jugend klaubte sich zusammen, was ihr gefiel: Der Beginn eines abenteuerlichen Eklektizismus. Dementsprechend klingt vieles auf der Box verdächtig. Mal kratzt und knirscht es wie Industrial, blubbert wie Ambient-Breakbeat von Aphex Twin, Breakcore von Alec Empire, Noise von Merzbow, Drone von Mogwai und so fort.

Aber weshalb sampeln Musiker in einem Land den Klang des Kaffees, der durch die Maschine läuft, wo doch höchst ungern Kaffee in China getrunken wird? Vielleicht geht es bei der Sehnsucht dieser Szene, in die Welt zu ziehen, auch darum, sich möglichst nutzlos zu machen. Man muss sich einem noch immer allgegenwärtigen konfuzianisch geprägten Denken entziehen, nach dem sich der Einzelne den Bedürfnissen der Gemeinschaft unterzuordnen hat. Vor diesem Hintergrund erscheinen Eskapaden wie die der Musikerin Shenggy in einem anderen Licht. Es geht nicht nur um jugendliche Subkulturen, wie sie immer auftauchen, wenn sich der Markt ausdifferenziert. Was wäre China, wenn es keine Rebellen wie diese hätte, die nicht nur Nein sagen zum weichgespülten Mandapop mit natreensüßen Liebesliedern, der allgegenwärtig ist, sondern auch Nein zu der Laufbahn, den die Gesellschaft inklusive lukrativem Job, eigener Wohnung und glänzender Limousine für sie vorgesehen hat?

Yan Jun jedenfalls, der gut zehn Jahre älter ist als sie, bezeichnet Musikerinnen wie Shenggy als Helden und Hoffnungsträger. Seine Worte haben Gewicht, gilt er doch als Pate der experimentellen Musik in Peking, der nicht nur das "Mini Midi"-Festival kuratiert, die interessanteste Nebenbühne des größten Musikfestivals des Landes, sondern seit sieben Jahren sein eigenes, kleines Label für avantgardistische Musik aus China betreibt, Subjam. Hört man sich seine eigene Musik an, die "Feldstudien", wie er sie nennt, fallen sofort Unterschiede zur Musik Shenggys auf. Für das auf der Box vertretene Stück "Its more than enough" von 2006 hat er Filmdialoge gesampelt, zerschnitten und zu komplexen Loops und Knoten verschränkt.

Für andere Stücke stellt sich Yan Jun mit einem Mikro auf Pekings Brücken und schneidet den Krach der Abrissbirnen und Kräne mit, die an der Riesenbaustelle des Olympiastadions eingesetzt wurden - oder das Dröhnen der Autos auf der neuesten Stadtautobahn. Ihn interessiert der Alltag, der ihn umgibt und der immer noch anders ist als anderswo in der Welt "Ich benutze gern Klänge, die Geschichten und Geister transportieren", sagt er. So entstehen mitunter geradezu melancholische Töne, die nicht ganz so aus ihrem Umfeld gelöst scheinen wie die vieler seiner Kollegen. Man hört ihnen die Auseinandersetzungen mit der Megalopolis an, einem urbanen Raum, der mehr als unwirtlich ist, und für den bereits viele alte Strukturen und Erinnerungen ausradiert wurden. Dabei geht es nicht um exotische Traditionen für den westlichen Hörer. Es geht trotz aller Verweigerung um lokale Verankerung. Diese Musik lässt sich nicht instrumentalisieren. Und doch ist sie zur Reflexion dessen, was gerade in China geschieht, mehr als nützlich.

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