Exiliraner protestieren in Kreuzberg: Kirche schmeißt Hungerstreikende raus
Seit über einer Woche verweigern 36 Exiliraner in einer Kreuzberger Kirche die Nahrungsaufnahme. Am Samstag müssen sie die Gemeinde verlassen.
Bis 14 Uhr an diesem Samstag müssen sie ihre Sachen zusammenpacken, ihre Matratzen und die Bilder mit den in einem irakischen Flüchtlingslager getöteten Iranern. Seit mehr als einer Woche befinden sich 36 Exiliraner in der evangelischen Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg im Hungerstreik. Am Freitag forderte der Gemeindekirchenrat sie auf, wieder zu essen - oder zu gehen. Die Exiliraner wollen nun vor dem Auswärtigen Amt in Mitte ihren Protest fortsetzen.
"Wir lassen diese Leute mit großer Sorge ziehen", sagt Pfarrerin Dagmar Apel. "Aber wir können dieses radikale Mittel des Protests, bei dem Menschen ihre Gesundheit derart gefährden, nicht unterstützen." Die hungerstreikenden Exiliraner protestieren gegen gewaltsame Übergriffe irakischer Streitkräfte auf das Flüchtlingslager Ashraf, nördlich von Bagdad. Dabei wurden Ende Juli 13 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt. In dem Lager leben 3.500 iranische Oppositionelle der Volksmudschahedin. Die Kirchengemeinde hatte die Berliner Exiliraner am vergangenen Samstag aufgenommen, nachdem die Demonstranten bereits drei Tage zuvor in einen Hungerstreik vorm Brandenburger Tor getreten waren.
Am gestrigen Freitag haben 20 Frauen in einem Raum links neben dem Kirchenschiff ihre Matratzen aneinandergereiht, eine Etage höher kampieren 16 Männer. "Hungerstreik: Tag 10", steht auf einer großen Tafel. Einige sitzen auf Gartenstühlen vor der Kirche.
"Fast jeder von uns hat Angehörige in Ashraf", sagt Mitra Hajinede, eine 40-Jährige, seit 24 Jahren in Deutschland. "Die Leute dort werden gefoltert, sie kriegen keine Medikamente und Lebensmittel." Die iranische Regierung hätte die irakischen Sicherheitskräfte aufgefordert, gegen die oppositionellen Volksmudschahedin vorzugehen. Verletzte könnten in dem Flüchtlingslager nicht behandelt, Tote nicht bestattet werden. "Der Hungerstreik ist unser letztes Mittel, um gehört zu werden", so Hajinede.
Zahra Rafici, eine 55-jährige Hungerstreikende, zeigt Bilder von ihren Verwandten. "Meine Tochter ist in Ashraf", so Rafici. Bekannte von ihr seien im Iran hingerichtet worden. Sie selbst sei dort inhaftiert gewesen. "Aber Ashraf ist schlimmer."
Jeden Tag zieht eine Gruppe der Hungerstreikenden mit Sympathisanten vor die deutsche oder US-amerikanische Botschaft. Deren Regierungen sollen sich für die Flüchtlinge einsetzen, fordern sie. Das Rote Kreuz müsse nach Ashraf. Die Amerikaner sollten das Lager schützen.
Die Protestierer sind gut organisiert: Auf Fernsehern in der Kirche laufen in Dauerschleife Nachrichtenbeiträge über Ashraf. Auf einem Laptop tippt eine Frau einen Protestbrief an den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). Ein Mann lässt eine iranische Fahne durch eine Nähmaschine rattern - für die nächste Kundgebung.
Pfarrerin Apel schaut auf das Treiben. Mehrmals schon habe man Kirchenasyl gewährt - aber 36 Hungerstreikende, "sowas hatten wir hier noch nicht". Auch wenn die Iraner nun fortziehen, teile man ihr Anliegen nach humanitären Verbesserungen für das Flüchtlingslager und werde dies weiter unterstützen. Das Ultimatum sei im Kirchenrat "sehr umstritten" gewesen, so Apel.
Nicht alle begegnen dieser Gruppe von Exiliranern so offen. Der deutsche Verfassungsschutz beobachtet die hiesigen Volksmudschahedin. Deren iranischer Arm soll Anschläge auf staatliche Einrichtungen und Repräsentanten verübt haben. Hajinede versichert dagegen, dass alle Volksmudschahedin 2003 die Waffen niedergelegt hätten. "Die Terrorvorwürfe sind Quatsch." Tatsächlich strich die EU die Gruppe Anfang des Jahres von der Liste terroristischer Vereinigungen. Man strebe nach einem freien, modernen Iran, so Hajinede, mit einem "wahren Islam" und der Gleichberechtigung von Frauen. Die Proteste gegen die Wiederwahl Ahmadineschads in Berlin hätten viele der Hungerstreikenden unterstützt.
"Traurig" seien sie, sagen die Protestierer, dass die deutsche Regierung bisher nicht die Vorgänge in Ashraf verurteilt habe. Auch deshalb werde man den Hungerstreik nicht abbrechen, sondern vorm Auswärtigen Amt fortsetzen. Sechs von ihnen hätten bereits vorübergehend ins Krankenhaus gemusst. "Wir können wenigstens ins Krankenhaus", sagt die 18-jährige Anna Ghafranifar. "Die Leute in Ashraf können das nicht."
Mitra Hajinede
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands