Ex-Verfassungsrichter über Volksentscheide: "Demokratie ist nie garantiert"
Mehr Volksentscheide, mehr Europa, mehr Internet: So will der ehemalige Bundesverfassungsrichter Brun-Otto Bryde die Demokratie verteidigen und stärken. Das Abschiedsinterview.
taz: Herr Bryde, sind Sie ein leidenschaftlicher Demokrat?
Brun-Otto Bryde: Ja, auch wenn ich den Begriff nicht verwenden würde.
Sehen Sie auch die Deutschen als ein Volk leidenschaftlicher Demokraten?
Rund 70 Prozent der Deutschen halten die Demokratie laut einer aktuellen Umfrage für die beste Staatsform. Ich denke, das ist ein ganz guter Wert. Am größten ist die Leidenschaft für die Demokratie aber meistens dann, wenn man sie vermisst.
Wie jetzt in Tunesien und Ägypten?
Ja, aber auch der friedliche Umsturz in der DDR war eine leidenschaftliche demokratische Bewegung.
68, war von 2001 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht (Erster Senat). Der parteilose Rechtsprofessor aus Gießen wurde einst auf Vorschlag der Grünen gewählt. Als federführender Richter prägte er Urteile zur Gleichstellung von Homo-Partnerschaften und zur Kontrolle der Gentechnik. In diesem Februar schied Bryde nach Erreichen der Altersgrenze von 68 Jahren in Karlsruhe aus. Ihm folgte Susanne Baer, zuvor Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität in Berlin, die von SPD und Grünen nominiert wurde.
Ist die demokratische Idee also ungebrochen attraktiv?
Antwort: Ganz bestimmt. Wir sehen das vor allem, wenn sie sich sogar unter schwierigsten Bedingungen durchsetzt. Die Menschen wollen über ihr Schicksal eben lieber selbst bestimmen als herumkommandiert zu werden.
Was ist denn die entscheidende Leistung der Demokratie?
Dass die Macht in freien Wahlen immer wieder neu vergeben wird. Dies ermuntert die Regierenden, möglichst viele Interessen zu berücksichtigen, um wiedergewählt zu werden. Vor allem aber sind Wahlen das ideale Modell, einen Machtwechsel unblutig zu gestalten.
Viele Menschen sind aber nicht damit zufrieden, nur alle vier Jahre zu wählen.
Zu Recht. Demokratie ist ein anspruchsvolleres Konzept, bei dem die Betroffenen möglichst gut an den Gemeinschaftsentscheidungen beteiligt werden.
Früher galt es in der Politikwissenschaft als Zeichen von Zufriedenheit, wenn sich die Bürger raushielten. Bürgerproteste wurden als Krisenphänomen betrachtet.
Diese Sicht ist offensichtlich überholt. Es ist gut, wenn Bürger sich einmischen. Partizipation stärkt die Demokratie.
Können Bürgerproteste wie bei Stuttgart 21 also die sinkende Wahlbeteiligung kompensieren?
Zumindest sind sie ein Zeichen, dass die Menschen nicht politikmüde sind und gehört werden wollen. Ich finde das ermutigend.
Befürworten Sie Volksabstimmungen?
Ja. Wir haben heute in unserem politischen System so viele Vetopositionen, dass die Verantwortung für einzelne Entscheidungen oft kaum noch erkennbar ist. Das Nein eines kleinen Koalitionspartners kann Entscheidungen verhindern, für die es nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Parlament eine Mehrheit gäbe, der Bundesrat redet mit und manchmal auch das Bundesverfassungsgericht. Die Stimmabgabe bei einer Parlamentswahl ermöglicht immer weniger konkrete Richtungsentscheidungen und sollte daher durch konkrete Volksentscheide ergänzt werden.
Hilft auch das Internet bei der Demokratisierung der Gesellschaft?
Sein anarchischer Charakter erlaubt Information und Kommunikation, die sich weitgehend staatlicher Kontrolle entzieht. Nicht nur in Diktaturen ist das ein großer Gewinn. Ungeklärt ist, wie sich dieses Potenzial erhalten lässt und der demokratische Gesetzgeber seine Gesetze auch im Netz durchsetzen kann. Es scheint in der Natur des Netzes zu liegen, dass Kontrollmechanismen sehr leicht unverhältnismäßig wirken.
Ist das Netz mit seinen Blogs, Foren und Netzwerken nicht auch ein effizientes Gegenmittel gegen Medienkonzentration?
Es ist sicher gut für die Demokratie, wenn hier neue niedrigschwellige Öffentlichkeiten entstehen. Und Medienpluralismus ist wichtig für die Demokratie. Wenn der Medienmarkt zu einseitig interessengebunden ist, wird auch der demokratische Willensbildungsprozess verzerrt. Für entscheidend halte ich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk, den das Bundesverfassungsgericht immer verteidigt hat, als pluralistisches und seriöses Medium erhalten bleibt.
Manche Bürger wählen nicht mehr, weil sie glauben, dass die Gewählten eh nichts ändern können.
Es wäre verhängnisvoll, wenn sich die Vorstellung durchsetzt, der Staat könne nur noch auf Vorgaben der internationalen Finanzmärkte reagieren. Zum einen stimmt das nicht, zum anderen beruhte die Deregulierung der Finanzmärkte auf bewussten politischen Entscheidungen. Sie ist also kein Naturereignis, sondern die Folge von demokratisch legitimierter Politik.
Wie konnte es dazu kommen?
Antwort: Das ist eine Folge der Reagan-Thatcher-Ära. Damals galt der Staat nicht als Lösung, sondern als Problem.
Hat nicht die Mehrheit der Bevölkerung ein Interesse an staatlicher Steuerung und großzügigen Sozialleistungen?
Konservative Theoretiker befürchteten noch in den 70er-Jahren eine Unregierbarkeit des Staates als Folge nicht finanzierbarer Sozialgesetze. Dann aber gelang konservativen Politikern ein genialer Schachzug, indem sie die Steuerfeindschaft auf die politische Agenda setzten: Alle wollen weniger Steuern zahlen, auch die geringste Steuer drückt. Wenn aber der Staat zu wenig Mittel hat, müssen Sozialleistungen abgebaut werden, quasi als Sachzwang, ohne dass dies offen propagiert werden muss. Unregierbarkeit droht daher heute eher von einer unzureichenden Mittelausstattung des Staates als von unangemessenen Forderungen der Bürger.
Die Forderung der FDP nach Steuersenkungen verfängt heute nicht mehr. Ein Fortschritt?
Das ist eine bemerkenswert reife Leistung der Bundesbürger, auf die wir durchaus ein bisschen stolz sein können, wenn wir es etwa mit den USA vergleichen. Allerdings sind Steuererhöhungen nach wie vor tabuisiert. Und als einziges westliches Industrieland haben wir in Deutschland keine Vermögenssteuer, obwohl diese eine wichtige Konsequenz aus der grundgesetzlichen Forderung nach der Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist.
Warum ist die Sicherung des Steueraufkommens eine Verfassungsfrage?
Wir sprechen doch über die Akzeptanz der Demokratie. Das Grundgesetz war als Verfassung nach dem Krieg zunächst nicht sonderlich gut angesehen. Seine wachsende Beliebtheit hat es in den folgenden Jahrzehnten auch dem Wirtschaftswunder und vor allem dem Ausbau des Sozialstaats zu verdanken. Gesellschaftliche Solidarität und staatliche Steuerungsfähigkeit tragen daher wesentlich zum Gelingen von Demokratie bei. Die Leute wollen einen leistungsfähigen Staat.
Wie soll Deutschland internationale Wirtschaftsentwicklungen steuern?
Realistischerweise geht das nur im Rahmen der EU. Die Stärkung der EU ist daher auch eine Stärkung der Demokratie. Die Milliardäre, die Kampagnen gegen die EU finanziert haben - zuletzt bei der irischen Abstimmung über den Lissabon-Vertrag - wollten ein starkes Europa verhindern und wussten sehr genau, was sie taten.
In Deutschland war auch die Partei Die Linke gegen den Lissabon-Vertrag.
Manche wissen offensichtlich nicht, was sie tun.
Wie aber steht es um die europäische Demokratie, wenn in Brüssel vor allem Regierungen miteinander Politik aushandeln?
Das Europäische Parlament ist heute ein gleichberechtigter Partner. Es arbeitet gut und diskutiert offener als nationale Parlamente, weil es keine EU-Regierung stützen muss. Das ist aber leider immer noch nicht im Bewusstsein der Bevölkerung und der Journalisten angekommen. Es ist einfach bequem zu glauben, dass das Parlament machtlos und die EU-Politik undurchschaubar ist.
Ist unsere Demokratie integrativ genug?
Nein, es ist ein großes Defizit, dass Einwanderer, die nicht deutsche Staatsbürger geworden sind, bei Wahlen ausgeschlossen bleiben. In manchen Stadtteilen betrifft das 25 Prozent der Bewohner. Damit werden auch die Interessen verzerrt. Der Ausschluss von Ausländern bei Kommunal- oder Landtagswahlen schwächt zum Beispiel die Position von Arbeitern, Hauptschülern und jungen Familien.
Nun war es ja gerade das Bundesverfassungsgericht, das ein Ausländerwahlrecht für unzulässig erklärt hat.
Ja, der Zweite Senat hat in seinem Urteil 1990 gefordert, dass alle Staatsgewalt vom deutschen Volk legitimiert werden muss und nicht von den jeweils Betroffenen, also der örtlichen Wohnbevölkerung. Ich habe damals als Prozessvertreter Schleswig-Holsteins für eine andere Entscheidung gekämpft und habe meine Meinung seither nicht geändert.
Ist es Zeit, einen neuen Anlauf zu unternehmen?
Wir haben ja inzwischen immerhin ein Kommunalwahlrecht für EU-Bürger, das man auf die Landesebene ausdehnen könnte. Aber die hier lebenden Türken, als größte Migrantengruppe, sind immer noch nicht wahlberechtigt. Es wäre interessant zu wissen, ob der Zweite Senat an der damaligen Entscheidung festhält. Für wichtiger und realistischer halte ich es aber, die Einbürgerung zu erleichtern.
Ist es nicht legitim, Anforderungen an Neubürger zu stellen?
Von neu ankommenden Einwanderern kann man einiges verlangen. Dagegen sollten wir bei der Einbürgerung derjenigen, die seit Generationen in Deutschland ansässig sind, großzügig sein, und zum Beispiel auf abschreckende Tests verzichten und doppelte Staatsbürgerschaften zulassen.
Der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio sagte: "Als Demokraten müssen wir ständig in Angst und Alarmbereitschaft sein." Stimmen Sie zu?
Ja, man darf Demokratie nie als etwas sehen, das garantiert ist. Sie muss immer gelebt und verteidigt werden.
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