Evangelikale in Deutschland: Um Gottes willen!
Sie kämpfen gegen Emanzipation und Evolutionslehre, Pornografie, Homosexualität und den Islam: Evangelikale Christen sind auf einem Kreuzzug gegen den Zeitgeist in Deutschland.
Pastor Wenz geht auf der Bühne hin und her. Ein hagerer Mann, der das Haar streng zur Seite gescheitelt trägt. Später wird er seiner Stuttgarter Gemeinde jovial zurufen: "Komm, wir geben Jesus mal einen richtigen Applaus!" Und seine Gemeinde wird johlen, tosen, klatschen. Nun aber ballt Wenz die Hand zur Faust. "Es gibt Feinde", ruft er. "Es gibt Menschen, aber auch böse Mächte, die das nicht wollen, was Gott will!" Schweißflecken zeichnen sich unter seinen Achseln ab. "Wir sind das Volk Gottes, wir sind eine heilige Nation", brüllt er schließlich. "Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?"
Peter Wenz ist Leiter der Biblischen Glaubensgemeinde im Stuttgarter Stadtteil Feuerbach. Bis zu 4.000 Menschen kommen jedes Wochenende in die Gottesdienste. Im Jahr macht das knapp 200.000 Besucher - und das Gotteshaus zur wohl ersten evangelikalen Megachurch in Deutschland.
Mehr als 420 Millionen Evangelikale weltweit vereint die "World Evangelical Alliance" nach eigenen Angaben unter ihrem Dach, insbesondere in den USA, Lateinamerika und Afrika boomt die bibeltreue Bewegung. Die missionarische Sammelbewegung speist sich aus Protestanten unterschiedlicher Herkunft, die eine wörtliche Bibelauslegung und die Sehnsucht nach persönlicher Glaubenserfahrung eint. Die Bibel gilt als oberste Autorität für das gesamte Leben, die Schöpfungslehre wird gegen Darwins Evolutionstheorie gestellt, vorehelicher Sex, Homosexualität und Abtreibung werden abgelehnt.
In Deutschland leben nach Schätzungen bis zu 2,5 Millionen Evangelikale, genaue Zahlen kennt keiner. Das Spektrum der Evangelikalen ist breit: Von Pietisten innerhalb der evangelischen Landeskirchen bis zu charismatischen und anderen Freikirchen oder Gruppierungen. Nach Schätzungen leben allein 300.000 bis 400.000 evangelikale Freikirchler aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland, die oft als "Evangeliumschristen" oder etwas irreführend als "Aussiedler-Baptisten" bezeichnet werden. Die Evangelikalen in Deutschland haben in den vergangen Jahrzehnten ein Netzwerk an Medien aufgebaut: Den Nachrichtendienst "idea", dessen Meldungen auch die rechtsgerichtete Zeitung Junge Freiheit übernimmt; Fernsehsender wie "Bibel TV" oder das "Deutsche Christliche Fernsehen"; Radiosender wie den "Evangeliumsrundfunk"; Zeitschriften wie das christliche Medienmagazin pro. Dazu kommen pseudowissenschaftliche Einrichtungen wie das "Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft" der "Offensive Junger Christen", das gegen Gender-Mainstreaming und Feminismus anschreibt und die Umpolung von Homosexuellen propagiert. Oder die "Studiengemeinschaft Wort und Wissen", die den Kreationismus in Deutschland befördert. Für Aufregung sorgte im Frühjahr 2008 das von Evangelikalen organisierte und vom Familienministerium unterstützte "Christival" in Bremen. Proteste löste ein dort geplantes Seminar der "Offensive Junger Christen" mit dem Titel "Wege heraus aus homosexuellen Empfindungen" aus, das schließlich abgesagt wurde. Statt fand aber ein Seminar der radikalen Lebensschützer "Die Birke", die Abtreibung auch im Fall einer Vergewaltigung ablehnen. Als ein zentrales Dokument der weltweiten evangelikalen Bewegung gilt die "Lausanner Verpflichtung" von 1974. Dort heißt es: "Wir halten fest an der göttlichen Inspiration, der gewissmachenden Wahrheit und Autorität der alt- und neutestamentlichen Schriften in ihrer Gesamtheit als dem einzigen geschriebenen Wort Gottes. Es ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt und ist der einzige unfehlbare Maßstab des Glaubens und Lebens." Noch weiter geht die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel von 1978, auf die sich aber nicht alle Evangelikalen beziehen: "Wir verwerfen die Ansicht, dass die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel auf geistliche, religiöse oder die Erlösung betreffende Themen beschränkt seien, sich aber nicht auf historische und naturwissenschaftliche Aussagen bezögen." Viele Evangelikale geben sich proisraelisch. Dahinter steckt allerdings oft eine problematische Haltung. Denn gleichzeitig halten die Evangelikalen an der "Judenmission" fest. Die "Deutsche Evangelische Allianz" hat ihre Position erst im September 2008 bekräftigt: "Gott ruft Gläubige auf, das Evangelium in die Welt zu tragen. Jeder muss diese Botschaft hören - auch das jüdische Volk." WOS
In den USA wird am Ende der Ära Bush ein Viertel der Bevölkerung den Evangelikalen zugerechnet, das wären mehr als 70 Millionen ultrakonservative Protestanten, die auf einer wörtlichen Auslegung der Bibel bestehen. Selbst der neue Präsident Barack Obama kommt offenbar nicht an ihnen vorbei: Bei seiner Amtseinsetzung am 20. Januar wird der evangelikale Pastor Rick Warren - ein erbitterter Gegner von Homoehe und Abtreibung - um Gottes Beistand bitten. In Deutschland dagegen haben sich die evangelikalen Christen lange abgeschottet und öffentlich wenig eingemischt - ganz im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die politische Zurückhaltung nahe legt. Sie kuschelten sich in ihren frommen Ghettos ein, kritisierten selbst die Vertreter der Evangelikalen die eigenen Schäfchen immer wieder. Inzwischen ist aber von politischer Zurückhaltung nichts mehr zu spüren. Wenn von diesem Sonntag an rund 350.000 deutsche Evangelikale an ihrer jährlichen Gebetswoche teilnehmen, beten sie auch "für Christen in Schlüsselpositionen von Politik, Kultur, Medien und Wirtschaft"; "für unsere Regierung im Land bei der Beurteilung des Islam"; und dafür, "dass unser Land und die Gesellschaft wieder mehr von christlichen Werten und der christlichen Botschaft geprägt werden".
Immer lauter mischen sich die Evangelikalen in Debatten und Wahlkämpfe ein, bombardieren Politiker mit Briefen und Fragen. "Sind Sie bereit, die Propagierung familienzerstörender Elemente in den Medien gegebenenfalls auch durch gesetzliche Schutzmaßnahmen zu vermindern?", heißt es in einem Wahlfragebogen, den der Evangelikalen-Dachverband "Deutsche Evangelische Allianz" an die Politik richtet. Die Evangelikalen betreiben ein ganzes Netzwerk aus Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Fernsehsendern und Radiostationen, sie beschäftigen eigene Lobbyisten und PR-Kräfte. "Wir haben derzeit so viele Chancen, uns selbst in den Medien darzustellen, wie nie zuvor", jubelte im Dezember der Evangelikalen-Funktionär Thomas Schirrmacher.
Es sind nunmehr fast eineinhalb Millionen Evangelikale, die sich unter dem Dach der "Deutschen Evangelischen Allianz" versammeln. Manche Schätzungen kommen sogar auf bis zu 2,5 Millionen Evangelikale in Deutschland. Hunderte neue freikirchliche Gemeinden, die dem evangelikalen Spektrum zugerechnet werden, haben sich in den vergangenen Jahren gegründet. Viele von ihnen sind deutlich radikaler als die klassischen Freikirchen, die oft bereits im 19. Jahrhundert entstanden sind. Dazu kommt eine unübersichtliche Zahl von Bibelhauskreisen, missionarischen Zentren, evangelikalen Vereinen und Sozialeinrichtungen - von Drogentherapiegruppen auf Bauernhöfen bis zu Armenspeisungen in den Städten.
Seit wenigen Wochen haben die Evangelikalen auch eine staatlich genehmigte Hochschule, die Freie Theologische Hochschule in Gießen, die vorher lediglich den Status einer Akademie hatte. Als "Durchbruch für die Evangelikalen in Deutschland" hat deren Rektor das gefeiert. Die Grundlage: die 1978 aufgestellte Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel.
Auch wenn die Bewegung alles andere als einheitlich ist: Wer das evangelikale Deutschland bereist, von Berlin bis Stuttgart-Feuerbach, von Leipzig bis ins hessische Werratal, erfährt rasch, was sie verbindet: Es ist der Widerstand gegen einen Zeitgeist, den sie als dekadent und gottlos empfinden. Die Evangelikalen stemmen sich gegen Emanzipation und Evolutionslehre, Pornografie, Homosexualität und den Islam. Sie geben sich proisraelisch - und missionieren dennoch auch unter Juden. Denn in ihren Augen wird nur errettet, wer Jesus als den Messias anerkennt.
Doch so sehr sich die Evangelikalen um Einfluss bemühen, einem religiösen Rollback sind enge Grenzen gesetzt. Deutschland, eine heilige christliche Nation? Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Und das ist ihre heimliche Tragödie: Eine pluralistische Gesellschaft hält die Evangelikalen aus - sie sind es, die an ihr verzweifeln.
An den Wänden des Konferenzraums eines Büros in Leipzig hängen Zeichnungen von Einfamilienhäusern, Pläne von Wohngebieten, Prospekte. "Letzter Bauabschnitt in Engelsdorf", steht auf einem, "Nutzen Sie Ihre Chance!" Ein Mittfünfziger mit Bart und Brille betritt den Raum, zur Krawatte trägt er eine silberne Nadel. "Dr.-Ing. Reinhard Steinbruch", steht auf seiner Visitenkarte. Er ist der Chef des Planungsbüros im Leipziger Süden. Und Diakon in der Freien evangelischen Gemeinde Leipzig.
Das Projekt, das Steinbruch heute präsentiert, hat nichts mit Häusern zu tun. Es geht um den biblischen Erlebnispark: das Genesis-Land. Die Idee stammt von schöpfungsgläubigen Schweizern. Kreationisten. Eigentlich wollten sie den Park im Raum Heidelberg bauen, bekamen aber im Sommer eine Abfuhr von Stadt und Region. Doch ihre millionenteuren Pläne wollen sie nach wie vor umsetzen. Nur wo? Ginge es nach Steinbruch, würde der Bibelpark in Ostdeutschland gebaut. "Das ist praktisch Diaspora", sagt er in leichtem Sächsisch. Christliche Diaspora.
Zeitreise durch die Geschichte der Menschheit, von der Schöpfung bis zur Vollendung", steht auf einem Katalog, der auf dem Konferenztisch liegt. Darin sind die Grundsätze des Parks festgehalten: Es solle ein Ort entstehen, "an dem der biblische Bericht als historische Tatsache interpretiert und dargestellt wird". Was das heißt, steht dort auch: Das Erdzeitalter wird auf 6.000 bis 10.000 Jahre veranschlagt. An anderer Stelle heißt es: Dinos und Menschen lebten einst gemeinsam auf der Erde - schließlich erinnerten die Beschreibungen des Behemot und des Leviathan im Buch Hiob an Dinosaurier. Ein Faltplan zeigt eine Übersicht über den Park. In der Mitte: die Arche Noah. Auch sie soll so gebaut werden, wie es in der Bibel steht, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit, 30 Ellen hoch.
Steinbruchs Team hat mehrere Elemente des Parks entworfen. So auch den Pavillon "Feuer", der die Johannesoffenbarung darstellen soll. Die Apokalypse. Steinbruch schiebt eine DVD in den Laptop. Ein langgezogenes Gebäude ist zu sehen. "Komm herauf und ich werde dir zeigen, was nach diesem geschehen muss", sagt eine Stimme. Feuer. Schreie. "Den Abschluss der großen Trübsal erlebt der Besucher durch das Zerfallen des Universums", sagt die Stimme. Man sieht die Weltkugel. Ein Knall. Dunkelheit. Schließlich gelangt man in den Raum des Jüngsten Gerichts. An dieser Stelle, so die Stimme, werden "Lasermenschen" erscheinen. Ein Teil stürzt in einen Feuersee. Der Rest gelangt in die neue Welt. Das Neue Jerusalem. Nach sechs Minuten endet der Film.
Glaubt Dr.-Ing. Reinhard Steinbruch all das? Glaubt er an das baldige Ende? Steinbruch zögert, druckst herum, schließlich antwortet er: Die Zeichen seien nicht zu übersehen. Die Pole schmelzen, das Wetter verändere sich, Naturkatastrophen nehmen zu. Keiner sei mehr für die Ehe, es werde in losen Partnerschaften gelebt, von Homosexualität ganz zu schweigen. "Der Zeitgeist an sich, die ganzen Lebensinhalte", sagt Steinbruch. "Das ist ein endzeitliches Verhalten."
Ein Wohnhaus im Norden des Berliner Bezirks Neukölln, es ist November. "Kommunismus" hat jemand auf die Fassade gesprüht. Im ersten Stock haben sich gut zwanzig amerikanische und deutsche Twens versammelt. Zwei Tage ist es her, dass in den USA Obama die Wahl gewonnen hat, zwei Drittel der unter 30-Jährigen haben ihn gewählt. Aber hier ist von Obamanie nichts zu spüren. Ein Twen aus Obamas Heimatstadt Chicago sagt, er habe gegen ihn gestimmt. Wegen dessen liberaler Haltung zur Abtreibung. Dan (28) aus Michigan setzt sich vor die Gruppe, er trägt T-Shirt, Jeans und weiße Nike-Socken. Er liest aus der Bibel, Psalm 23, ein deutscher Student übersetzt.: "Und muss ich auch durchs finstere Tal, ich fürchte kein Unheil." Danach gibt es Popcorn, Tortilla-Chips und Jesus-Lieder: "Denn ich bin sein und er ist mein, mit seinem Blut macht er mich rein."
Wenn man so will, ist Dan ein Missionar im Praktikum, ein evangelikaler Entwicklungshelfer. "Campus Crusade for Christ" heißt die evangelikale Organisation, die ihn und ein Dutzend weitere US-Amerikaner für ein Jahr nach Berlin geschickt hat. Crusade, das heißt übersetzt Kreuzzug.
Mehr als 1.000 Hochschulgruppen zählt "Campus Crusade" in den USA. Das deutsche Pendant "Campus für Christus" ist bisher an rund zwanzig Hochschulen vertreten. Die Bewegung sei zwar auch in Deutschland stark, aber bisher noch "very underground", sagt Dan. Wer seine Gruppe beobachtet, wie sie an der Technischen Universität in Berlin Jesus-DVDs und Broschüren über Gottes Plan für unser Leben anpreist, weiß, was er meint. Fast alle ignorieren den Stand vor der Mensa einfach nur. "Die meisten Studenten können wahrscheinlich ihre ganze Unizeit hinter sich bringen, ohne ein Gespräch mit jemandem zu haben, der wirklich an Jesus glaubt", sagt Dan. Aber genau deshalb ist er ja hier.
Der Rohbau eines Autowasch-Centers in Stuttgart, umgeben von Autohäusern und Tankstellen. Gleich dahinter: das "Gospel Forum". Der knapp zwanzig Meter hohe Flachdachbau ist eine Mischung aus Mehrzweckhalle und SB-Möbelmarkt. Viel Glas. Viel Beton. Helles Holz. Lüftungsrohre an der Hallendecke. Das "Ikea der Evangelikalen" hat man es schon genannt. Neuankömmlinge bekommen Gummibären in Herzform. Und einen Gutschein für ein Erfrischungsgetränk. Man gibt sich offen, nach außen hin modern. Zu Beginn des Gottesdiensts spielt eine Soft-Rock-Band. Nach wenigen Takten recken die ersten Besucher die Arme in die Höhe. Die Halle ist voll, selbst auf der Empore bleibt kaum ein Stuhl leer. Pastor Wenz trägt ein fliederfarbenes Hemd zur dunklen Anzughose, als er an diesem Sonntag im November vor seiner Gemeinde steht. "Gott sprach gerade zu meinem Herzen, jemand wird jetzt geheilt an seiner Bauchspeicheldrüse", ruft Wenz über ein Soundbett aus Orgel und Gitarre. "Die Ärzte werden es bestätigen!"
Göttliche Wunder auf der einen, dämonische Mächte auf der anderen Seite: Hier in Stuttgart-Feuerbach glaubt man fest daran. Am Abend zuvor war ein italienischer Gastprediger da. Am Ende seines Heilungsgottesdiensts kommen die Besucher nach vorne, auf Krücken, in Rollstühlen, gestützt von Angehörigen. Eine Familie bringt ihr schwer krankes Kleinkind. Der Prediger drückt ihm die Hand auf den Kopf: "By the power of god, be healed."
Peter Wenz und seine Biblische Glaubensgemeinde (BGG) gehören zur charismatisch-pfingstlerischen Strömung des Christentums, jenen Evangelikalen, die besonders viel Zuwachs verzeichnen. Ihr Ziel: Eine "persönliche Beziehung" zu Gott aufzubauen - wie auch immer das funktioniert. Wenz selbst habe bis 1978 ohne eine solche Beziehung zu Gott gelebt, erzählt er später in einem Hinterzimmer. Dann erlebte er seine Wiedergeburt. Er war damals zwanzig Jahre alt und angehender Zeitsoldat. Heute ist er ein Soldat des Herrn.
Einer, der die Öffentlichkeit nicht scheut. Im September 2006 durfte Wenz in Sabine Christiansens TV-Talk über ein Thema diskutieren, mit dem er sich auskennt: Wann wird aus Frömmigkeit Fanatismus?
"Sex: Gottes Wahrheit" heißt ein Ratgeber, den Frauen an einem Stand im Foyer verkaufen. Dort werden vorehelicher Sex und Oralverkehr als Werk des Teufels bezeichnet. Onanie? Führt in dämonische Abhängigkeit. Jugendliche stehen im Foyer, albern herum. Sie hatten gerade Teeniebibelschule. "Allah ist mächtig, Allah ist groß", ruft einer. "Ein Meter siebzig und arbeitslos."
Über den "Charisma Shop" ist auch eine Predigtreihe zum Thema "Sexualität im Licht der Bibel" als CD-Set zu beziehen. "In der Bibel steht alles genau drin", ruft Pastor Wenz auf der Aufnahme. "Gott will den Mann männlich und die Frau will er weiblich." Aus der Gemeinde hört man ein lautes "Ameeen". Später doziert Wenz über Homosexualität. Seine Stimme hebt an: "Wenn jemand hier ist heute, der homosexuell gebunden ist: Du sollst frei werden durch den Kraftstrom des Heiligen Geistes."
ie Gemeinde radikalisiere sich in Richtung "eines protestantischen Fundamentalismus US-amerikanischer Prägung", schrieb der Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Landeskirche Württemberg schon vor gut acht Jahren. Wenige Monate später öffnete das "Gospel Forum". Solche Kritik wischt Wenz weg. Es gebe immer Neider, sagt er. Er wähnt sich auf der richtigen Seite. Als Teil einer weltweiten Bewegung, die wächst und wächst und wächst. Unter ihm ist um die Gemeinde eine Art sozial-moralisches Milieu herangewachsen, vergleichbar mit dem sozialdemokratischen Arbeitermilieu im 19. Jahrhundert. Oder dem katholischen Milieu in den 20ern und 30ern. Zur Gemeinde gehört der "Christliche Sportverein Stuttgart 1999 e. V.". Eine eigene Kita. Eine Pfadfindergruppe. Seniorentreffs. Von der Wiege bis zur Bahre: evangelikal.
Rosemarie D. (42) steht im Garten ihres Hauses in Archfeld im Werratal, ein Dorf am äußersten Rand Hessens. Sie trägt einen langen Rock und ein blaues Kopftuch, das mit Spangen an ihren blonden Haaren befestigt ist. Auf dem Arm hält sie die knapp ein Jahr alte Sulamith. Noah (5) und Jeremia (8) werfen sich gegenseitig einen Gummiring zu. "Hochwerfen und dann auffangen", ruft die Mutter. Sportunterricht. Zwischen Gemüsebeet und Gartenteich.
Einige Meter weiter steht eine Wäschespinne. Darauf hängt ein T-Shirt, das einem der sieben Kinder gehört. Der Aufdruck lautet: "Ich bin ein Meisterwerk Gottes." Am Gartentor steht auf einem Holzschild: "Herr, Gott, du bist unsere Zuflucht für und für".
Ende der 90er-Jahre haben sich Rosemarie und Jürgen D. in das 150-Seelen-Dorf zurückgezogen, in ein altes Bauernhaus mit knarzenden Dielen und niedrigen Decken. Hier können sie leben, wie sie wollen. Oder eher: so leben, wie Gott es will. So dachten sie zumindest bis vor kurzem.
Rosemarie und Jürgen D. weigern sich seit Jahren, ihre Kinder in eine Schule zu schicken. Sie wollen nicht, dass jemand anderes die Kinder unterrichtet als sie, die Eltern. Das Landgericht Kassel hat die beiden im Sommer deshalb zu je drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Familie ging in Revision, mit Erfolg, an Heilig Abend kam der Bescheid. Nun muss der Fall neu verhandelt werden. Ausgang: ungewiss.
500 bis 1.000 sogenannter Homeschooling-Familien gibt es in Deutschland. Eine Entwicklung, die der Staat eigentlich unterbinden will. Die Entstehung von "Parallelgesellschaften" müsse verhindert werden, heißt es in den Urteilen hoher Gerichte.
Parallelgesellschaft? Eine hessische Christenfamilie?
Zum Klassenzimmer geht es den Flur entlang links. Dort steht eine kleine Schultafel, an der Wand hängt eine Weltkarte. Daniel (12) und Lukas (14) sitzen an ihren Schreibtischen. Sie haben Unterricht beim Vater. Lukas lernt Geschichte, Daniel Englisch. "She teaches. She ist das Subjekt", erklärt Jürgen D. Jeden Tag von sieben bis dreizehn Uhr ist Unterricht. Am Nachmittag dann verdient der studierte Politologe Geld mit Nachhilfeunterricht. Viel dürfte dabei nicht zusammenkommen. Aber auf irdische Reichtümer gibt die Familie sowieso nicht viel.
Am Ende der Stunde vermerkt der Vater, was die Kinder gelernt haben. Englisch, Relativsätze, schreibt er in Daniels Ordner. In einem anderen Ordner, den er hervorkramt, hat er die Lehrpläne Thüringens abgeheftet, an denen er sich grob orientiere. "Das hat alles Hand und Fuß."
Hat es das wirklich? Auf dem Schreibtisch liegen Stifte der fundamentalistischen "Partei Bibeltreuer Christen", die bei den letzten Bundestagswahlen knapp 110.000 Stimmen bekam. In den Regalen stehen Dutzende von alten Schulbüchern. Gängige Lehrwerke von Klett oder Diesterweg, wenn auch teils aus den Siebzigern. Im Regal mit den Biologiebüchern steht jedoch ein neueres Buch: "Evolution. Ein kritisches Lehrbuch", die bekannteste deutsche Kreationistenfibel. Einen Raum weiter steht "Die Evolutions-Lüge". Ein Buch, in dem es gleich zu Beginn heißt: "Aus einem Affen wurde nie ein Mensch!"
Ist das der Grund, warum Familie D. ihre Kinder nicht in die Schule schicken wollen? Weil sie ihnen Darwin nicht zumuten wollen? Die Erkenntnisse jenes Mannes, dessen 200. Geburtstag die Welt im Februar feiert?
Jürgen D. sitzt nach dem Unterricht in der kühlen Stube, der Holzofen ist an diesem Herbsttag noch nicht in Betrieb. Er trägt einen grauen Pulli, schwarze Jeans und braune Sandalen. "Der Glaube an Gott, an Jesus Christus, was spielt der denn noch für eine Rolle? Man wird als Christ ja heute fast schon belächelt", sagt er. Er kramt eine Schrift hervor, die er zusammen mit seiner Frau verfasst hat: "Jonathans Werdegang als Hausschüler". Er will damit zeigen, wie gut die Kinder lernen. Darin ist nachzulesen, wie der älteste Sohn nach Jahren des Hausunterrichts kurz die Realschule besuchte und mit einem Notenschnitt von 1,1 abschloss. Gerade hat Jonathan (16) eine Schreinerlehre angefangen. Ein Handwerksberuf. Wie Jesu Vater Josef, der Zimmermann.
Es ist still geworden im Haus, trotz der sieben Kinder. Auch von draußen dringt kein Autolärm herein. Man hört keine Handys, keine Gameboys, keinen Fernseher, kein Radio. All das wollen die Eltern von ihren Kindern fernhalten.Was ist mit Sexualkunde? Die Frage lässt Jürgen D. unruhig werden. Dies sei kein Thema, das man im Unterricht explizit behandeln müsse, sagt er. Aber die Kinder bekämen ja alles mit. Wenn der Hahn die Henne auf dem Hof besteigt zum Beispiel.
Rosemarie D. sitzt in der Küche, bereitet das Essen vor, Nudeln mit Tomatensalat. "Lieber drei Monate Gefängnis für uns Eltern als jahrelanges Gefängnis in der Schule für die Kinder", sagt sie. In der Schule seien der Manipulation Tür und Tor geöffnet. "Da kommen irgendwelche Modeströmungen rein und bestimmte Meinungen werden verfestigt." Was genau sie damit meint? "Das, was der Zeitgeist eben gerade diktiert."
Auf dem Weg zum Bahnhof erzählt Jürgen D. von den Christenverfolgungen im Römischen Reich. Und davon, wie heute weltweit Christen unterdrückt würden. In China. Nordkorea. Was er nicht sagt, aber wohl meint: Inzwischen ist es auch hier schon so weit. Verbitterung klingt in seinen Worten mit. Übers Auswandern haben sie nachgedacht, aber das Geld fehlt.
Die Familie als christliche Eiferer zu betrachten, ist die eine Möglichkeit. Man kann es aber auch so sehen: Vor hundert Jahren wären Jürgen und Rosemarie D. in Deutschland kaum aufgefallen. Im 21. Jahrhundert aber wirken sie wie aus der Zeit gefallen.
"Gott hat uns diesen Weg gezeigt", sagt Jürgen D. zum Abschied. Dem Besucher drückt er ein Glas Honig in die Hand, von den eigenen Bienen. Und ein Neues Testament.
Wolfgang Baake (58) bewegt seinen wuchtigen Körper in das Café Einstein in Berlin, Unter den Linden, nur wenige hundert Meter vom Bundestag entfernt. Ein Treffpunkt von Politikern, Journalisten, Lobbyisten. An den Wänden hängen Fotos von Genscher und Clinton. Baake ist so etwas wie der Cheflobbyist der deutschen Evangelikalen. Er nennt sich "Beauftragter am Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung". Seine Organisation, die "Deutsche Evangelische Allianz", findet sich auf der Lobbyliste des Bundestags auf Platz 744 von 2051, kurz nach der Deutschen Dystonie Gesellschaft. Baakes Themen sind der Schutz von Ehe und Familie, Abtreibung, Sterbehilfe. "Wir müssen dahin zurück, wo unsere Gesellschaft herkommt", sagt Baake zum Frühstück.
enn er sich öffentlich zu Wort meldet, verteidigt Baake zum Beispiel Lehrer, die im Biologieunterricht die Schöpfungslehre unterrichten. Oder er kritisiert das ZDF aufgrund der Filmreihe "Sommernachtsfantasien". Für ihn ist diese dem Thema Erotik verpflichtete Reihe nichts anderes als "praktizierte Pornografie". Lange hat das, was er sagt, nur wenige interessiert. Im Dezember aber verlangte Baake den Rücktritt des Chefs der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger - und hatte damit fast Erfolg. Streitpunkt war ein Text in einer bundesweiten Schülerzeitung, in dem die jugendlichen Autoren die Evangelikalen heftig kritisierten. Die Zeitung wird von der Bundesbehörde mitfinanziert. Auf Druck von bibeltreuen Christen und aus der Politik distanzierte sich Bundeszentralenchef Krüger von dem Schülerheft - und von einem Begleitschreiben, in dem er selbst Islamisten und evangelikale Gruppen verglichen hatte. Es ist zwar nur ein kleiner, aber doch bemerkenswerter Sieg für die Evangelikalen. Und für Baake.
Ein Foto vom März des Jahres 2007 zeigt ihn und andere Vertreter der deutschen Evangelikalen im Berliner Bundeskanzleramt. Neben der Pfarrerstochter Angela Merkel. Es sei ein sehr interessantes Gespräch gewesen, erinnert sich Baake an diesem Freitag im Herbst. Was sie denn Interessantes miteinander besprochen haben? "Vertraulich." Nach dem Frühstück will Baake an diesem Tag noch Abgeordnete von Union und FDP treffen. Wen genau, sagt er wiederum nicht. Einen "Funktionär der Fundamentalisten" hat ihn die konservative Welt einmal genannt.
Aber ist Baake das? Ein Fundamentalist? "Was ist besser, als auf einem Fundament zu stehen?", fragt Baake am Ende des Gesprächs zurück. "Dem Fundament der Bibel?"
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