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Europäische Integration steckengeblieben

Die EG — „wirtschaftlicher Riese, politischer Zwerg, militärischer Wurm“ oder „im stillen an Europa arbeitend“?/ Angesichts des Golfkrieges bekräftigt Nato-Generalsekretär Wörner seine Forderung nach gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Im „Wüstensturm“ am Golf sei zumindest der EG-Integrationsprozeß steckengeblieben, frohlockte der britische Kriegsherr Major diese Woche. Was seine Vorgängerin Thatcher selbst in zehn Jahren erbittertsten Widerstands nicht geschafft hatte, für Saddam Hussein und seine westlichen Kriegskameraden war es ein Klacks: Die noch vor Monatsfrist unter großem Trubel in Rom in Szene gesetzte politische Union der EG mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik wird inzwischen als Rohrkrepierer gehandelt. „Die Zwölf sind ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm.“ Diesen Vorwurf des belgischen Außenministers Eyskens angesichts der Zuschauerrolle der EG im Golfkrieg wies der EG-Kommissionspräsident Delors am Mittwoch in Straßburg zurück: „Unter den Zwölfen herrschte Einigkeit, ihre Reaktionen erfolgten äußerst rasch. Und doch — gestehen wir es uns nur ein — machte sich in der Öffentlichkeit ein Gefühl des vergeblichen Wartens auf Europa breit. Hüten wir uns jedoch vor vorschnellen Schlüssen! Soviel sei Ihnen gesagt — wir arbeiten im stillen daran.“

Unerwartete Schützenhilfe erhielt der Kommissionschef von Nato-Generalsekretär Manfred Wörner. Das Durcheinander der EG-Golfpolitik zeige, wie notwendig eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft sei. Diese dürfe allerdings nicht mit den Nato-Strukturen in Konkurrenz treten, warnte Wörner am Donnerstag in Brüssel. Ähnlich argumentierte die Europa- Ministerin in Mitterrands Kabinett, Elisabeth Guigou. Der Golfkrieg zeige, daß das Defizit der Gemeinschaft in politischen und militärischen Fragen so schnell wie möglich beseitigt werden müsse. Ob dies allerdings auch die Bedingung einschließt, daß die EG einen gemeinsamen Standpunkt vor UNO-Entscheidungen entwickelt, wie es der Luxemburger Außenminister und amtierende EG-Ministerratsvorsitzende Poos fordert, wollte sie nicht sagen. Schließlich würde dies die Rolle Großbritanniens und Frankreichs als Mitglieder im ständigen Sicherheitsrat der UNO unterminieren.

Das Europaparlament (EP) kam unterdessen seiner traditionellen Aufgabe als Claqueur der EG-Regierungspolitiken nach. Es bemühte sich in den vergangenen Tagen um eine gemeinsame Position zum Golfkrieg. Doch wie schon bei den entscheidenden Debatten zur europäischen Sozialcharta, der Umweltagentur oder der EG-Kommissionsermächtigung zur deutschen Vereinigung ging der Versuch daneben. Über eine Woche benötigten die Abgeordneten, um ihre „Unterstützung“ für die alliierten Kriegsanstrengungen gegen den Irak mit der „Hoffnung“ zu unterstreichen, daß man diese „schnell beenden“ könne.

Diesen Spagat setzte die Fraktion der Sozialisten und Christdemokraten mit 202 gegen 98 Stimmen bei 25 Enthaltungen gegen Grüne, Linke, Kommunisten und britische Labour- Abgeordnete durch. Die Euro-Opposition hatte „sofortige und konkrete Schritte zur Beendigung des Krieges und zum Rückzug der irakischen Besatzungsmacht aus Kuwait“ gefordert, weil sie davon ausgeht, daß die Golfkrise „mit nichtmilitärischen Mitteln und Sanktionen beigelegt werden“ könnte. Als gemeinsamer Nenner diente lediglich die von der französischen Regierung propagierte internationale Nahost-Konferenz, die von Israel und den USA jedoch abgelehnt wird.

Daß die Parlamentarier erst Donnerstag nachmittag nach einer fast viertägigen Marathondebatte zu Potte kamen, hat zwei Gründe: Eine bereits für Donnerstag letzter Woche angesetzte Diskussion wurde vom erweiterten Präsidium kurzfristig abgesagt, weil eine Plenumsversammlung in Brüssel ein Exempel gegen Straßburg gesetzt hätte. Die elsässische Metropole wird von Frankreichs regierenden Sozialisten als Hauptsitz des Europaparlaments verteidigt. In Brüssel finden lediglich die Ausschuß- und Fraktionstreffen der ParlamentarierInnen statt, in Luxemburg ist die Verwaltung untergebracht. Eine Mehrheit der Abgeordneten plädiert schon seit einiger Zeit dafür, den teuren und ineffektiven Wanderzirkus zu beenden und das Parlament ganz nach Brüssel zu verlegen. Dies stößt allerdings auf erbitterten Widerstand der französischen und luxemburgischen Regierungen. Immerhin hatte der erweiterte EP-Vorstand im September durchgesetzt, daß in Ausnahmefällen auch in Brüssel Plenen stattfinden dürften. Auf diesen Ausnahmefall beriefen sich die Abgeordneten, als im Golf der Krieg ausbrach. Das erweiterte Präsidium unter dem Vorsitz des spanischen Sozialisten Baron verschob die Debatte auf Anfang dieser Woche.

Daß dann die Debatte selbst so lange dauerte, lag an den unterschiedlichen Einschätzungen der ParlamentarierInnen zum Krieg. Während die einen grundsätzlich gegen Krieg als Lösung internationaler Konflikte eintraten, setzten sich die staatstragenden französischen Sozialisten um Fraktionsführer Cot trotz ihrer vorangegangenen Antikriegsrhetorik für eine Solidaritätsbotschaft an die westlichen Kriegsführer ein. Auch im Falle der Sozialcharta und der Umweltagentur hatten die ParlamentarierInnen große Töne gespuckt, um dann plötzlich das Feld den EG-Regierungen zu überlassen. Dem Umwelt- und Sozialschutz müsse die gleiche Bedeutung eingeräumt werden wie die Schaffung des Binnenmarkts, ansonsten, so drohten sie, würden sie rigide Maßnahmen ergreifen. Nichts dergleichen geschah: Im Dezember 1989 verabschiedeten die EG-Regierungschefs eine nicht bindende Sozialcharta, die jetzt durch ein sogenanntes Aktionsprogramm aufgefüllt werden soll.

Ähnlich verhielt sich die Parlamentsspitze bei der Entscheidung Mitte September, der Kommission vorübergehend eine Vollmacht auszustellen, um vom Parlament noch nicht befürwortete Ausnahmeregeln bei der Integration der DDR in die EG anzuwenden. Angeblich wollten die EP-Lenker damit ein rechtliches Vakuum verhindern helfen, weil die DDR nach dem 3. Oktober zwar Teil der EG ist, aber unmöglich von heute auf morgen alle EG-Gesetze einhalten kann. Tatsächlich sind sie nur um das Image des Parlaments besorgt. Schließlich hofft die Parlamentsführung, bei der anstehenden Reform der EG-Institutionen ein paar Machtbrösel abzubekommen. Das Parlament begnügt sich mit der Rolle des Aschenbrödels im EG-Binnenmarkt, statt die Entwicklung Europas seinem Auftrag gemäß als einzig direkt gewähltes EG-Gremium ernsthaft mitzugestalten.

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