Europäische Auswanderung im Bild: Rote und blaue Stempel
Um 1900 wanderten Millionen junger Frauen aus Europa aus, viele führte der Weg in die Prostitution: Eine Doppelausstellung in Berlin und Bremerhaven.
BERLIN taz | „Im April dieses Jahres wurde ein junges deutsches Mädchen, das sich Meta Stecher nannte, in völlig verwahrlostem Zustande aufgefunden“, heißt es in einem Schreiben, das 1913 vom Kaiserlichen Generalkonsulat in New York an das Auswärtige Amt geht. 15 Jahre alt ist die junge Frau, als sie aufgegriffen und in ein Heim gesteckt wird. Zuvor hatte sie ihre Stelle als Dienstmädchen verloren, schlief auf der Straße – bis einige Männer sie einsperrten, vergewaltigten und zur Prostitution zwangen.
Es ist eine typische Geschichte: 1897 wurde Meta Stecher als achtes Kind im Umland von Bremerhaven geboren. Ihre Mutter starb früh. Vom dortigen Hafen bricht Meta Stecher 1911 in die Neue Welt auf. Um 1900 kehrten Millionen junger Frauen Europa den Rücken. Sie suchten Arbeit. Zehntausende fanden sie in der Prostitution. Viele freiwillig, andere unter Zwang.
„Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930“ folgt ihren Spuren und trägt damit ein weitgehend unbeachtetes Kapitel der Auswanderungsgeschichte nach. Zeitgleich wird die Ausstellung von der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und im Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven unweit des Hafens gezeigt.
Die Kuratorin Irene Stratenwerth hat, unterstützt durch die Kulturstiftung des Bundes, mehrere Jahre in Archiven in Odessa, Berlin und Buenos Aires geforscht. Herausgekommen sind bruchstückhafte Lebenswege der Auswanderinnen. Die Dokumente – Fotos, Polizeiakten, Briefe – sind aufwendig präsentiert und mit Hörbeispielen und Zeitungsberichten bereichert. Die Schwerpunkte sind verschieden gesetzt: Während in Bremerhaven der Mädchenhandel als Teilaspekt der Auswanderung gilt, geht es in Berlin um die besondere Betroffenheit von Juden.
Die Kais von Buenos Aires
Großformatige Aufnahmen zeigen die Drehkreuze des Mädchenhandels: Rio de Janeiro, Konstantinopel, New York, Bombay – überlaufene Hafenstädte, in denen Männer in der Überzahl waren. Eindrucksvoll ist eine Luftaufnahme des Hafens von Buenos Aires um 1924. Sie zeigt eine Menschenmasse und unzählige Fuhrwerke am Kai. Unvorstellbar, wie sich Neuankömmlinge dort zurechtfinden konnten. Und so rekrutierten dort gut gekleidete Männer junge Frauen für die Bordelle.
Per se von Zwangprostitution zu sprechen, ist dennoch falsch. Für viele Frauen bot die Prostitution die Chance auf eine Existenz fern ab der patriarchalischen Enge, fern von Armut und Hunger. Einige verdienten in der Neuen Welt viel Geld, gründeten Familien und blieben für immer. Häufig aber entstanden neue Abhängigkeiten von den Zuhältern.
Im Mittelpunkt der Doppelausstellung steht der Gelbe Schein – durch einen Blickkorridor ist er in Berlin schon zu Beginn der Ausstellung zu sehen. In Russland mussten Prostituierte bis 1915 ihre Papiere gegen dieses Dokument tauschen. Es diente der Überwachung, die wöchentlichen medizinischen Untersuchungen wurden dort vermerkt. Ein blauer Stempel bedeutete „gesund“, ein roter „Menstruation“. Für jüdische Mädchen war der Schein die einzige Möglichkeit, die den Juden zugewiesenen Ansiedlungsrayons im Russischen Reich zu verlassen, erst recht, als sie von antisemitischen Pogromen bedroht waren.
Zu sehen ist der Schein von Julia Mendik, geboren 1849, einer „zum orthodoxen Christentum konvertierte Jüdin“. Im umfangreichen Begleitband vermuten die Autorinnen ein Beispiel für die Zwangskonvertierung. So wurde das Einwanderungsverbot von Juden nach Russland umgangen.
Es gibt auch Spektakuläres zu sehen, etwa einen auf 1862 datierten Brief Otto von Bismarcks, zu dieser Zeit Königlicher Gesandter in St. Petersburg. Er bittet um Unterstützung für Marie Haase, die, angeworben als Aushilfe in einem Weingeschäft, in einem Bordell gelandet war. Dokumentiert ist auch der Prozess gegen die jüdische Vereinigung „Zwi Migdal“ in Buenos Aires, die offiziell Beerdigungen der als unrein geltenden Prostituierten abwickelte, jedoch ein Kartell von Zuhältern gewesen sein soll. Geführt wurde er von der Prostituierten Raquel Lieberman – auf Fotos posiert sie im Bademantel. Auch einige Männer werden porträtiert, etwa Shulim Babki, ein verurteilter „internationaler Mädchenhändler“, der zwischen Deutschland, Mexiko und Kuba seine Geschäfte machte.
Besonders die Zuhälter-Porträts sind brisant. Der Mädchenhandel galt immer als jüdisches Geschäft. Plakate warnten die Frauen um 1900 vor „fremden“ Männern, stereotyp mit Uhrenkette und Hut gezeichnet. Das Centrum Judaicum geht offensiv damit um. Das Klischee vom jüdischen Kuppler hatte aber auch eine andere Funktion: Es stützte das überkommene bürgerliche Frauenideal, nach dem die Prostituierte als Opfer männlicher Gier und nie als Protagonistin des eigenen Lebens galt. Diese Doppelmoral, die Prostitution zwar anerkennt, aber als unredlich brandmarkt, erklärt zum Teil die schwierige Archivlage: Erinnerungen wurden von den Familien meist aus Scham vernichtet.
„Der Gelbe Schein“ in der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum bis 30.12.12, im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven bis 28.2.13
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