■ Jelzin verliert die Kontrolle über sich selbst und sein Land: Eto wsjo – das ist alles
Als die russischen Truppen die tschetschenischen Geiselnehmer in Perwomaiskaja eingekesselt hatten, erklärte Präsident Jelzin vor Journalisten Einzelheiten der „Befreiungsaktion“: Überall seien Scharfschützen versteckt und hätten ihr Ziel fest im Auge. Dabei bewegte er seinen Kopf hin und her, so schnell er konnte, also ziemlich langsam. „Bewegt sich das Ziel, bewegt sich der Scharfschütze auch. Eto wsjo – das ist alles.“ (Solch wichtige Details darf nur ein Präsident verraten.) Spätestens seit diesem Auftritt muß jeder wissen, daß sich bei Jelzin nichts mehr bewegt – außer vielleicht die Hand, wenn sie zur Flasche greift.
Einige Tage zuvor hatte Jelzin seinen Grenztruppenchef, General Nikolajew, vor laufenden Fernsehkameras zusammengestaucht. Tschetschenen hatten gerade das Krankenhaus im dagestanischen Kisljar besetzt. Die Grenzer hätten geschlafen, rief Jelzin wütend. „Ich habe den Befehl gegeben, die Grenze zu Tschetschenien unter Verschluß zu halten, damit niemand sie passiert.“ Entlassen wurde der General aber nicht – Jelzin hatte ein Detail übersehen: Zwischen Dagestan und Tschetschenien, mitten in Rußland, sind die Grenztruppen gar nicht im Einsatz.
Solche Geschichten hört man in Moskau seit Monaten dutzendweise. Man kann darüber lachen, es sind schöne Anekdoten, und die meisten sind auch wirklich lustig. Aber jeder sollte wissen, worüber er da lacht: Der Präsident der zweitgrößten Atommacht der Welt ist gerade dabei, die Kontrolle über sich selbst und sein Riesenreich zu verlieren, vor unser aller Augen, live im Fernsehen, zur besten Sendezeit. (Und das ist noch eine wohlwollende Betrachtungsweise. Vielleicht hat er die Kontrolle ja schon verloren.) Aber was macht der Westen? Er wiegt den Kopf hin und her und hat ganz, ganz schwere Bedenken: Wenn Jelzin nicht wiedergewählt wird, wer kommt dann? Womöglich Gennadi Sjuganow, „der Kommunist“. Also ist Kinkel schweren Herzens dafür, Rußland in den Europarat aufzunehmen, aber diese Aufnahme müsse mit der Ankündigung „deutlicher Gespräche“ mit Moskau über Tschetschenien verbunden werden. Das sollte man sich merken: So sieht der geballte Einsatz des Westens für Menschenrechte aus. Was war gleich noch mal in Tschetschenien passiert?
Wenn Rußland heute in den Europarat aufgenommen wird – und die Chancen dafür stehen nicht schlecht –, in eine Institution, die Demokratie und Menschenrechten verpflichtet ist, dann hat Europa nichts anderes verdient als Jelzin. Der war übrigens 29 Jahre in der KPdSU, fast zehn Jahre Mitglied des Zentralkomitees und drei Jahre Kandidat des Politbüros – soviel zu „dem Kommunisten“ Sjuganow. Jens König
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