Estrongo Nachama — ein Zauberer der Liebe

■ Heute vor 45 Jahren übertrug der RIAS zum ersten Mal die von ihm gesungene Schabbatfeier der Jüdischen Gemeinde von Berlin/ Seit 1947 ist Estrongo Nachama Oberkantor in der Jüdischen Gemeinde/ Trotz Auschwitz liebt er die Menschen

Das erste Mal hörte ich ihn vor vielen Jahren im Lichthof der Technischen Universität. Es gab irgendeinen ökumenischen Anlaß, und geboten wurde Musik der großen Weltreligionen. Aus der Reihe eines Chors, der vorher Bach gesungen hatte, löste sich plötzlich ein kleiner, rundlicher Mann, südländisch aussehend, mit sehr dichten Augenbrauen. Er trat in die leere Mitte des Lichthofes, eine Orgel ertönte, der Mann öffnete weit die Arme, er schien zu wachsen und uns alle zu umspannen, und in die Stille hinein erklang das Sch'ma Israel.

War das ein hoher Bariton oder tiefer Tenor? Ich weiß es nicht — nur noch, daß die Stimme wunderschön war und der Gesang so ergreifend, daß vielen Zuhörern die Tränen kamen. Mir auch. Erst später erfuhr ich, daß dieser Mann Estrongo Nachama gewesen war, der Oberkantor der Jüdischen Gemeinde von Berlin, und daß er bekannt sei weit über das eingemauerte Berlin hinaus.

Denn heute, vor genau 45 Jahren, übertrug RIAS 1 zum ersten Mal die Schabbatfeier aus der Synagoge in der Pestalozzistraße in die ausgebombten Häuser der Stadt. Aus den Volksempfängern, die zwei Jahre zuvor noch antisemitische Hetztiraden gebracht hatten, erklangen am 6.Juli 1947 die von ihm gesungenen Psalmen des Alten Testaments und das Abendgebet »Haschkivenu Adonai Elohenu le Schalom« (Führe uns, Herr, unser Gott, zu friedvoller Ruhe). Und seit diesem Tag ununterbrochen, Woche für Woche, jeden Freitag um 18 Uhr 10.

Keine andere religiöse Sendung ist über Jahrzehnte so viel gehört worden wie diese Schabbatfeier mit Kantor Nachama. Die wenigsten verstanden die hebräischen Worte, aber die »herrliche Stimme dieses bewegenden Sängers ... schuf Frieden und innere Nähe, wo Fremdheit und Vorurteil war«, wie einmal der Intendant Herbert Kundler sagte. Und trotz ständiger Schikanen gegenüber der Jüdischen Gemeinde Ost wurde über Jahrzehnte diese Sendung des amerikanischen Klassenfeindes vom Staatlichen Rundfunk-Komitee der DDR übernommen.

Estrongo Nachama war immer ein Grenzüberschreiter. Als in den 60er Jahren der Rabbiner Riesenburger in Ost-Berlin starb, war es Nachama, der hinüberging und die kleine Gemeinde betreute. Er war so bekannt, daß er einmal, am Weihnachtsabend, am Checkpoint Charlie ohne Ausweis von West nach Ost wechseln durfte. Wie jedes Jahr wollte er eine christliche Familie besuchen, die ihn, typhuskrank, im Mai 1945 aufgenommen hatte. »Aber passen Sie auf, daß Sie nicht erwischt werden«, sagte der Major an der Grenze, »sonst sind wir alle dran.«

Aber es ist nicht nur dieser strahlende Bariton oder dunkle Tenor, der die Hörer in seinen Bann schlägt. Es ist der Mensch Nachama. Eli Wiesel hat in seiner Ansprache zur Verleihung des Friedensnobelpreises gesagt, daß eine jüdische Antwort auf Auschwitz nur die Liebe sein kann. Diese kann die ganze Nach- Auschwitz-Generation nicht begreifen, nicht einmal theologisch.

In diesem Sinne ist Estrongo Nachama ein unbegreiflicher Mensch. Jeder, der ihn einmal bei einem Konzert — selbst in der hintersten Reihe — erlebt hat, spürt ganz deutlich, hier ist jemand, der die Menschen liebt. Es ist nicht nur sein Charme und sein Witz, es sind nicht nur die Bonbons, die er manchmal während der Liturgie hustenden Zuschauern zuwirft. Er strahlt eine Freundlichkeit aus, die sich auf die Anwesenden überträgt und eine ganze Weile vorhält. Er ist ein Zauberer der Liebe.

In die Wiege gelegt war ihm das nicht. Geboren wurde er 1918 als Sohn eines tiefreligiösen Getreidehändlers in Saloniki. Nach dem Abitur hätte er das Geschäft seines Vaters übernehmen sollen. Aber dann kamen der Krieg und die Nazis nach Griechenland. Wie die ganze große sephardische Gemeinde wurde er im März 1943 über Jugoslawien und Ungarn nach Auschwitz transportiert. Seine Familie überlebte die Selektion an der Rampe nicht. Es selbst mußte dreißig Kilometer von Auschwitz entfernt in einem Steinbruch arbeiten. Über diese Hölle redet er nur ungern, nicht einmal gegenüber seinem Sohn Andreas Nachama. (Dieser leitete übrigens in diesem Jahr die große Ausstellung »Jüdische Lebenswelten«.) Nur einmal erzählte er einem Freund, daß er sich in diesem Nebenlager mit gestohlenen Hundekuchen am Leben halten konnte. »Denn ich bin ein großer Tierfreund. Mir taten die scharfen Bluthunde der SS nichts. Wenn ich ihnen zuschnalzte, ließen sie sich sogar etwas von ihrem Futter wegnehmen.«

Als die Rote Armee Ende 1944 auf Auschwitz zurückte, wurden die Häftlinge nach Sachsenhausen gebracht. Nachama gehörte zu den 12.000, die von dort aus im Frühling 1945 den berüchtigten »Todesmarsch« nach Mecklenburg antreten mußten. Nur ganz wenige überlebten diese Tortur. Nach seiner Befreiung durch sowjetische Truppen traf er im Mai in Berlin ein. Der Zug, der nach Griechenland hätte fahren sollen, blieb in der Stadt, die Eisenbahnlinien waren zerschlagen. Nachamas Anspannung löste sich, er bekam Typhus, wog gerade noch dreißig Kilo. Viele Monate lang lag er im Krankenhaus, viele Rückfälle waren zu überstehen. Irgendwann, so sagt die Legende, muß sich eine bildschöne Krankenschwester über ihn gebeugt haben. Sie hieß Lilly, ist bis heute seine Frau geblieben, und schön ist sie noch immer. Vielleicht war sie der Grund für ihn, in Berlin zu bleiben und Deutsch zu lernen, eine Sprache, die er von aller Härte befreite und durch einen starken Akzent bereicherte. Fast könnte man meinen, er singt sie.

Sicher aber ist, daß die Jüdische Gemeinde seine wunderschöne Stimme in der Ostberliner Synagoge in der Rykestraße entdeckte und daß er schon ein Jahr später, am 1. Juli 1947, eine Kantorenstelle in der Pestalozzistraße erhielt. Dort mußte er erst einmal seine eigene, orientalisch klingende Liturgie der sephardischen Juden in die askanische, das heißt in die ost- und westeuropäische Tradition verändern. Und das gelang ihm.

Nie, sagte der Religionsphilosoph und Schriftsteller Schalom Ben-Chorin, habe er bei seinen vielen Synagogenbesuchen in Amerika, England oder Israel eine Schabbatfeier so »ergreifend gesungen gehört wie in Berlin«. Durch ihn erhielten Abertausende von Deutschen über zwei Generationen hinweg eine Ahnung vom Reichtum der jüdischen Religion und Respekt vor einer intensiven Gläubigkeit. Im Jiddischen wünscht man einem Menschen, dem man wohl will, alles Gute und fügt hinzu: »Und das noch 120 Jahr!« Vielleicht geschieht ein Wunder, und der Wunsch wird bei Kantor Nachama wirklich wahr. Anita Kugler

Im Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße gibt es mehrere Kassetten, CDs oder Platten mit synagogaler oder hebräischer Musik zu kaufen. Das nächste öffentliche Konzert Nachamas mit dem Magdeburger Domchor findet im November anläßlich der Jüdischen Kulturtage statt.