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Essay über die Randale in EnglandMechanismen der Eskalation

Nur sinnlose Zerstörung oder attraktive Quelle der Anerkennung? Wie lassen sich die August-Krawalle von England erklären? Und was folgt daraus? Eine Analyse.

Von einem Polizeihelikopter heraus aufgenommene Infrarot-Bilder aus Birmingham, die beweisen sollen, dass Jugendliche mit scharfer Munition auf den Hubschrauber geschossen haben. Bild: dpad

Die schweren Krawalle, die nach dem gewaltsamen Tod eines Familienvaters durch die Polizei am 7. August in London ausbrachen, haben Großbritannien erschüttert. Insgesamt starben fünf Menschen, mehr als 2800 Menschen wurden verhaftet.

Was von außen gesehen als sinnlose Gewalt erscheint, hat in der Logik der jugendlichen Akteure jedoch eine politische Botschaft: "Uns gibt es noch." Wie sind solche Unruhezyklen zu analysieren und zu erklären? Es sind immer drei zentrale Faktoren zu untersuchen: die gesellschaftlichen Hintergründe, das Agieren politischer Eliten und die Mechanismen der Eskalation.

Das Aufwachsen in der britischen Klassengesellschaft ist für zahlreiche Milieus von geringen Chancen der Integration und Anerkennung und großen Gefahren der Desintegration und Missachtung gekennzeichnet. Das zeigen die Vorläufer der jüngsten Unruhen in den achtziger und neunziger Jahren trotz ihrer unterschiedlichen ethnischen oder sozialen Konstellationen.

Wilhelm Heitmeyer

ist Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialisation an der Universität Heidelberg. Er forscht zu den Themen Rechtsextremismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, ethnisch-kulturelle Konflikte und soziale Desintegration.

Dabei laufen die individuellen Desintegrationsprozesse überall nach gleichem Muster ab. Das notwendige Verhältnis von Freiheit und Bindung wird in drei Dimensionen zerstört: in der sozialstrukturellen durch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die zerstörerische Wirkung der Arbeitslosigkeit; in der institutionellen durch die Erfahrung und das Gefühl ungleicher und ungerechter Behandlung, etwa durch Politik, Polizei und Justiz; und in personaler Hinsicht, wenn die familiäre Ordnung zerfällt und soziokulturelle Beziehungen sich auflösen. Und immer wieder sind in diesen Bereichen entweder Anerkennungsverweigerung oder Anerkennungszerfall zu registrieren. Es stellt sich die ständige Frage nach alternativen Anerkennungsquellen: wenn schon nicht in gesellschaftlicher Hinsicht, dann wenigsten in der "Binnenkultur" der Gang.

Hinzu kommen die jeweiligen sozialräumlichen Lebensbedingungen in segregierten, also "abgehängten" Stadtteilen von Großstädten. Hier sind rechtsfreie, zumindest kontrollfreie Räume entstanden, in denen die Normen der zivilen Gesellschaft nicht mehr gelten und von der Polizei auch nicht mehr durchgesetzt werden. Es gilt dort das Recht des Stärkeren. Andere Sozialisations- und Kontrollinstitutionen wie Schulen oder Sozialarbeit und die soziale Kontrolle durch Eltern fallen auch häufig aus. Sozialisation findet über Gewalt statt.

Signalereignisse und Feindbilder

Diese Situationen erzeugen ein hohes latentes Konflikt- und Wutpotenzial, können aber nicht den Ausbruch, die Eskalation und Verbreitung der Gewalt erklären. Dazu bedarf es des Zusammenwirkens verschiedener weiterer Faktoren:

Zunächst sind Signalereignisse notwendig. Diese sind nicht beliebig, um entzündungsfähig zu sein. Es muss ein Signalereignis einer bestimmten Qualität geben, damit es emotional und moralisch ausgebeutet werden kann wie die Erschießung des farbigen Familienvaters durch die Polizei in London. Ähnliche Beispiele haben wir auch schon anderswo gesehen, im Jahr 1992 in Los Angeles oder 2005 in einer Pariser Banlieue.

Ein zweiter wichtiger Faktor sind scharfe wechselseitige Feindbilder. In London verlangten die Demonstranten zunächst friedlich nach einer Untersuchung des Vorfalls, was die Polizei missachtete und so das Feindbild von der verhassten Staatsmacht bekräftigte. So kommt die Spirale der Eskalation mit ihrer überspringenden - also vom Signalereignis abgelösten - Gewalt etwa in anderen Stadtteilen und Städten in Gang.

Eine anstiftende Motivation liegt in der Opferrolle. Wer sich aber als Opfer betrachtet, gewinnt einen moralischen Vorsprung, der es ihm subjektiv erlaubt, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Wenn dann die Normen des Einzelnen oder seiner Gruppe und die der Gesellschaft auseinanderfallen, droht ein Zustand der Anomie, der Regellosigkeit und des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung. Dort, wo Jugendliche keine andere Form der sozialen Wertschätzung finden, ist Gewalt eine höchst attraktive Quelle der Anerkennung, ermöglicht durch Normlosigkeit.

Gefühlte Kollektivität

Ein zentraler Faktor besteht darin, dass der Unruhezyklus nur dann seine volle Wucht entfaltet, wenn eine kritische Masse an Jugendlichen "erzeugt" werden kann, unter anderem über moderne Kommunikationsmittel und eine hohe Verteilungsmobilität im großstädtischen Raum. Als gefühlte Kollektivität zeigen diese Gruppen vor aller Augen, dass sie sich der Polizei stellen und eine zerstörerische Gegenmacht bilden können.

Die politischen Eliten spielen eine weitere eskalierende Rolle. So, wenn Premierminister Cameron mit der vollen Härte des Gegenschlags droht, nach dem Motto: Wir kriegen euch alle. Der frühere französische Innenminister Sarkozy hatte mit der berühmten Formel vom "Kärchern" eine besonders brutale Vorlage geliefert. Kontrollverluste durch die Polizei gehören auch zu den ausbreitenden Faktoren, weil es niemanden gibt in der amorphen Masse in den Straßen, mit denen etwa über den Stopp verhandelt werden kann.

Die Vervielfältigung der Abläufe über Medien erhöhen die Erfolgserlebnisse und erzeugen neue Motivation einschließlich der Bereitschaft zu erhöhter Brutalität, denn "mehr vom Gleichen" wird von den Medien nicht mehr aufgenommen.

Schließlich sind die groben Mittel wie Wasserwerfer und Reizgas eskalierend. Es kommt zu einer Repressionsinkonsistenz (so der amerikanische Soziologe Ted Gurr). Die Staatsgewalt trifft flächendeckend Schuldige wie Unschuldige, Anführer und Mitläufer oder nur am Rande Beteiligte. Es gibt weitere Solidarisierungsschübe. Dazu gehört auch: Jede Überreaktion erzeugt neue Wut, die Unterreaktion aber wird als Ermunterung verstanden, als Erfolgsbestätigung für neue eigene Gewalt.

Gewalt in ihren eskalierenden Formen ist keine Einbahnstraße; sie ist ein zirkulärer Prozess (so in der Auffassung des Soziologen Friedhelm Neidhardt), in dem die Akteure, Jugendliche und Polizei, einander zu immer stärkerer Abweichung von deeskalierenden Aktivitäten stimulieren.

Das Verschwinden der Arbeiterklasse

Innerhalb dieser Dynamik gibt es unterschiedliche Relevanzen, die Eskalationen steigern oder ersticken. So bleibt ein emotional und moralisch ausbeutbares Ereignis wie die Tötung eines Menschen ohne Resonanz, wenn ein kollektives Feindbild wie die Polizei fehlt. Es wird dann zu einem juristischen Untersuchungsgegenstand. Oder wenn die kritische Masse aufgebrachter Jugendlicher nicht kollektiv motiviert werden kann, sind hochgerüstete Repressionskräfte schnell in der Lage, die kleinen Gewaltherde einzukreisen. Daraus ergeben sich auch die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten des Auftretens gewaltsamer Unruhezyklen in verschiedenen europäischen Gesellschaften, wenn wichtige Elemente der Eskalationsdynamik ausfallen.

Offen ist die Frage, wie die Politik das richtige Gleichgewicht zwischen Repression und Integration finden kann angesichts der Missachtung ganzer Bevölkerungsgruppen. Die britische Politik hat sich jahrzehntelang auf die Förderung der Finanzmärkte konzentriert. Die vernachlässigte Industriepolitik hat Jugendlichen mit niedriger Qualifikation die Chancen von beruflicher und sozialer Integration genommen und zum Verschwinden einer Arbeiterklasse massiv beigetragen, die noch eigene Wert- und Normbildungsprozesse vorantreiben konnte.

Wenn diese Maßstäbe aus der Tradition des spezifischen sozialen Milieus herausgelöst werden, schafft das zwar Freiräume. Aber daraus entsteht auch die Verpflichtung für die soziale Umgebung, andere Voraussetzungen für interaktive und kommunikative Wert- und Normbildungen zu schaffen. Missachtung und Sprachlosigkeit in der Klassengesellschaft führt über Normlosigkeit in die Gewaltspirale. Nur wer sich selbst auch anerkannt fühlt, hat ein Interesse an der Stabilität gesellschaftlicher Normen und gewaltarmer sozialer Ordnung, und: Wer sich selbst nicht wahrgenommen sieht, ist ein Nichts und muss die Folgen seines Tuns für andere nicht mehr berücksichtigen. Die anderen verlieren an Bedeutung, und damit entwerten sich die sie schützenden Normen geforderter Unversehrtheit.

Neue Anerkennungsdefizite

Das Ergebnis ist eine dramatisch sinkende Hemmschwelle. Wird der Normenverlust auch von oben vorgelebt, durch die Arroganz von Eliten, mittels Lebensstil und Vorteilsnahme, so gibt es keine Gründe, dass diese Normen "unten" funktionieren, wie Cameron es jetzt mit hoher moralischer Attitüde einfordert, aber nur noch Doppelstandards medienwirksam zelebriert.

Die Aufrechterhaltung von Normen setzt aber voraus, dass Akteure nicht ausschließlich über zweckrationale Erwägungen an diese Normen gebunden sind. Der Sanktionsapparat allein, Polizei und Justiz, ist in dieser Funktion ungeeignet. Und die Gefängnisse sind bekanntlich wahre Lehranstalten zur Gewalt und effektive Desintegrationsmaschinen. Es ist ein fataler Irrtum, den Abbau sozialer Sicherungen durch den Ausbau öffentlicher Sicherheit - noch mehr Polizei, noch mehr Überwachungskameras - kompensieren zu können. Zumal man unterscheiden muss zwischen instrumenteller Gewalt, die die Gelegenheit nutzt, um Beute zu machen, und expressiver Gewalt, die sich selbst legitimiert.

Die erste Variante kann der Normalbürger in der Regel noch meiden, indem er sich von bestimmten Orten, Zeiten und Situationen fernhält; sie lässt nach, wenn die Beute gemacht ist. Die zweite Variante kann jeden treffen, weil die Opfer beliebig sind und keiner zweckrationalen Auswahl mehr unterliegen, sondern nur noch dem Gefühl der Wut ausgeliefert sind; sie kann jederzeit - bei einem entsprechenden Signalereignis - die Eskalationsspirale wieder in Gang setzen.

Jugendlichen nun Moral vorzuhalten, ihre Verwahrlosung anzuprangern, wie der britische Premier Cameron es jetzt tut, hilft nicht weiter, sondern erschwert im Gegenteil die Chancen der Kommunikation darüber, wie es nach der massiv durchgesetzten künstlichen "Beruhigung" weitergehen soll. Deren Herstellung kann schon gar nicht durch diese Vorwürfe und massenweise Aburteilungen durch Schnellgerichte erreicht werden. Sie erzeugen neue Anerkennungsdefizite wie Repressionsinkonsistenz und legen die Voraussetzungen für neue gewaltsame Unruhezyklen, zumal die sozialen Kürzungen erst noch kommen. Bis 2015 will Cameron das Haushaltsdefizit um umgerechnet 94 Milliarden Euro senken und vor allem im sozialen Bereich Ausgaben kürzen.

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15 Kommentare

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  • JK
    jonas k.

    Bei allem Respekt für Herrn Heitmeyer,

     

    aber stellenweise ist die Analyse dann doch nicht ganz sauber, so sie denn den Anspruch hat, zunaechst einmal konkret die Londoner Riots beschreiben und nicht zu allgemein zu werden. "Schließlich sind die groben Mittel wie Wasserwerfer und Reizgas eskalierend. Es kommt zu einer Repressionsinkonsistenz (so der amerikanische Soziologe Ted Gurr). Die Staatsgewalt trifft flächendeckend Schuldige wie Unschuldige, Anführer und Mitläufer oder nur am Rande Beteiligte. Es gibt weitere Solidarisierungsschübe."

    > In London kamen die benannten groben Mittel ja garnicht zum Einsatz. Und die überwiegende Mehrheit der Einwohner von Hackney, Brixton und Croydon verlangte explizit danach, waren es doch ihre Nachbarschaften, ihre Existenzgrundlagen, die zerstört und ihre Autos und Wohnhaeuser, die abgefackelt wurden. In Hackney wurde ich Zeuge, wie die Polizei eine reine Defensivtaktik fuhr: waehrend ein wahrer aus Steinen und brennenden Holzlatten aus unmittelbarer Naehe direkt auf sie niederging, hielten sie nur die Schilde hoch. Die "Polizeigewalt"-Bilanz dieses Tages war ein Maedchen, dass nach wiederholten Würfen mit solchen Objekten von der Polizei zu Boden geworfen wurde. Die wurde dann natürlich als Opfer hingestellt.

    In Brixton und Croydon konnten die Randalierer acht Stunden lang ungehindert jedes Geschaeft im Umkreis von ca. sechs Kilometern ausplündern, zerstören und anstecken. Als die Polizei schliesslich in den frühen Morgenstunden die letzten Trittbrettfahrer auf frischer Tat ertappte und festnahm - dies sehr moderat -, stand da ein ganzer Strassenzug und applaudierte. Ich habe in dieser Nacht mit vielen schwarzen Jugendlichen, vor allem Maedchen, gesprochen, um herauszufinden, ob die Polizei normalerweise brutaler vorgeht, so, wie man es immer aus L.A. hört. Keine einzige bejahte die Frage. Alle gaben an, dass die Polizisten normalerweise respektvoll und freundlich seien, wenn man ihnen nicht gerade mit der Waffe vor der Nase herumfuchteln würde.

    Es ist richtig, dass einige Zeit vor dern Riots das neue Gesetz, das es Polizisten erlaubt, ohne Begründung Personendurchsuchungen vorzunehmen, einige Veraergerung hervorgerufen hat als sich herausstellte, dass nun vermehrt schwarze Jugendliche in den entsprechenden Stadtteilen kontrolliert werden. Kommentar einer Gruppe Maedchen: "That`s ridiculous, whom else should they check at 3a.m., white grannies or what.".

    Die Perspektive, die Herr Heitmeyer auf diese Riots hat, scheint mir doch stellenweise eher "deutsch eingefaerbt" zu sein. Im Grossen und Ganzen ist im jedoch Recht zu geben.

  • UZ
    Ulrich Zeitler

    OK, das war grad ziemlich fies von mir, aber ist euch nach Blick in div. Geschichtsbücher nie der Gedanke gekommen, daß wir nicht verdientermaßen untergehen?

  • WW
    Wilfried Wang

    Ein erster wirklich kompetenter und differenzierter Beitrag zur Erklärung der britischen Vorgänge. Danke Herr Heitmeyer.

     

    In Britannien gilt nach wie vor das Prinzip "you can do it, as long as you don't get caught". Das haben alle Klassen in Britannien seit Jahrhunderten vorgelebt. Das erläutert den Spesenskandal der Parlamentarier, den Skandal um Titel für Spenden der Labour Party, die enge Verflechtung von News International mit maßgeblichen Politikern, die Mentalität der Finanzwelt.

     

    Das Prinzip beginnt mit der Jagd nach Schnäppchen, wie man für sich einen Vorteil aus einer Situation herausschlägt, und endet mit der Konstruktion eines Machtapparats, mit dessen Hilfe man sich so lange wie möglich am Tropf der Staatskasse hängt.

     

    Und wie Cameron, womöglich unbewusst, in Bezug auf den News International Skandal ja bereits feststellte: "we are all in it together". Sie stehen alle in der gleichen Scheisse, die Briten. Wie sie da raus kommen wollen, ist mir ein Rätsel. Denn spätestens an diesem Punkt hätte Cameron zurückgetreten werden müssen. Aber dazu fehlt im die Weitsicht und Weisheit, wie übrigens den meisten Politikern. Wir haben es mit einem langsamen und unaufhaltbaren Untergang einer weit überschätzten "Kultur" zu tun. Schön, dass Britannien eine Insel ist. Das Land kann man abhaken.

  • T
    Toby

    @ el nino del mundo

    Solcherlei kenne ich auch. Das sind verlorene Kinder. Die Sorte Menschen, vor denen man eines Tages steht, wenn sie etwas Ungeheuerliches mit ungeheuerlicher Fühllosigkeit getan haben und sich fragt, wie das sein könne, wo das her käme und was da zu tun sei. Und die Antwort wird vermutlich lauten – da ist nichts zu tun. Da war was zu tun. Aber es war niemand da, der es getan hätte.

    Wenn er aber in einem Jahr in die Schule kommt und da wäre ein Schulsystem, welches für die wirklich wichtigen Dinge Zeit und Mittel und Personal hätte, dann wäre noch einiges zu reißen. Der Bengel braucht Bäume, Tiere, Stöcker und Menschen, die sich wirklich für ihn interessieren. Seine Lehrer werden nur Zeit für seine Rechtschreibung haben. Und die vermutlich irgendwann auch aufgeben.

  • R
    Rosa_Lux

    @ Thomas

    Bei dieser Betrachtung wird der Vorbildcharakter von Politikern, Glorifizierung bestimmter Eliten bzw. Stars und deren verschwenderischer Lifestyle etc. und dem damit verbundenen Werte- und Normenverlust dieser Gesellschaft vernachlässigt. Es wird den unteren Einkommensschichten Wasser gepredigt - für andere scheint Champagner gerade gut genug.

    Eine Gesellschaft, die sozialen Frieden (und Solidarität) will muss für mehr Homogenität sorgen. Ein Zuviel an Unterschieden wird - zurecht - als Ungerechtigkeit empfunden.

     

    Es ist nachweislich wesentlich schwerer Armut im Angesicht von (teils obszönem) Reichtum zu ertragen, als arm inmitten von Armut zu sein! Besonders wenn ein Ende weder absehbar noch realistisch ist!

     

    Ich möchte hier nicht die allseits bekannte Liste der strafrechtlich, aber auch verfassungsrechtlich relevanten Verfehlungen von Parteien, Politikern und Unternehmen aufzählen: Die berechtigte Empörung der Menschen führt aber natürlich in der Folge zu vergleichbaren Verwerfungen beim Bürger. Nach meiner Ansicht wird gerade der gesunde Menschenverstand (und damit verbundene Gerechtigkeitssinn) der Bürger weit unterschätzt!

    Wie können wir als Mit-EU-Land zusehen, wie in England jemand für eine Flasche Wasser zu 4 Jahren Freiheitsentzug verurteilt wird? Sehen wir dem zu, wie die Nachbarländer der Entwicklung hier in Deutschland ab 1933 zugesehen haben (ja - ein nicht ganz korrekter Vergleich - aber ich hoffe plakativ genug)? Oder kommt es auf ein paar Unterschichts-Jugendliche und deren weiteres Leben ja nicht an?

    Und das angesichts der Einigung bezüglich der Schweizer Steuerflucht-Millionen und der daraus folgenden faktischen Amnestie für diese Straffälligen? Muß der gestohlene Betrag nur groß genug sein, damit er keine Folgen hat?

    Was bitte ist das mittlerweile für ein Rechtsverständnis? Mir scheint, das Grundgesetz hat nicht mehr überall und für jeden die gleiche Gültigkeit...

    Dann allerdings muß man den Zorn dieser Menschen zwangsläufig in Kauf nehmen.

  • KK
    Karla Kater

    Folgende Inhalte sind für mich kennzeichnend:

    "Wird der Normenverlust auch von oben vorgelebt, durch die Arroganz von Eliten, mittels Lebensstil und Vorteilsnahme, so gibt es keine Gründe, dass diese Normen "unten" funktionieren, wie Cameron es jetzt mit hoher moralischer Attitüde einfordert, aber nur noch Doppelstandards medienwirksam zelebriert..."

    Heitmeyer spricht hier exakt das Problem an: die unternehmerische Stadt London kann hier verordnet werden. Segregation dur andauernde Entwurzelung der städtischen Milieus durch Gentrifizierung, Desintegration durch Arbeitslosigkeit und Entwertung der Subjekte bei zunehmender sozialer Abgrenzung gegen über den an den Rand gedrängten Verlierern. Städtische Ghettos, die nach Auffassung der Profiteure der unternehmerischen Stadt, die "nutzlosen" konzentriert , um dann durch bloße staatliche Gewalt eingegrenzt zu werden.

  • GN
    Graf Nitz

    "nach dem gewaltsamen Tod eines Familienvaters"

     

    Nette Formulierung - man könnte meinen, ein Passant sei durch eine Gang von 4 Mihigru-Jugendlichen totgetrampel worden.

     

    TAZ - welche Zuschreibungen kann man dem Toten denn noch machen, neben "Familienvater" fällt mir da noch einiges ein.

  • M
    maoam

    Nach meinem Verständnis ist, in einer Demokratie, der Staat die gewählte Volksvertretung, die gewählte Vertretung der Gesellschaft.

  • H
    hto

    @Thomas

     

    "... welche Rolle spielen Elternhaus und Schule bei der Vermittlung von Werten."

     

    - mannomann, immer wieder die gleichen blödsinnigen Symptomatiken der systematischen Hirnwäsche zu "individualbewußter" Suppenkaspermentalität auf systemrationaler Sündenbocksuche, wo es doch WIEDER immer offensichtlicher wird, daß die Ursache aller Probleme / allen Versagens der nun "freiheitliche" Wettbewerb ist!?

     

    Es gibt in dieser entmenschlichend-herrschenden Welt- und "Werteordnung" des Konsum- und Profitautismus nichts was EINDEUTIGER Wahrheit entspricht. Und wenn doch, dann wird es in Überproduktion von systemrationalem Kommunikationsmüll KONFUSIONIERT!?

     

    Das Essay ist womöglich zu großen Teilen ein PLAGIAT aus den Siebzigern!?

  • T
    Thomas

    Mal nicht so am Thema vorbei reden. Ich hoffe die taz thematisiert noch die Sache mit den bewaffneten Jugendlichen. Wie kann es sein das die dort anscheinend so einfach an Schusswaffen kommen? Haben die dort ein lasches Waffengesetz?

  • RR
    Ron Ronsen

    @Thomas: Das ist schon richtig, nur schafft die Politik / der Staat die Rahmenbedingungen, die - wie in England - zur Auflösung der Integrationsinstitutionen Schule und Familie führen KÖNNEN. Das und warum diese Institutionen ihre Funktion nur noch unzureichend erfüllen, arbeitet der Artikel heraus. Wenn schon die Eltern (zum Beispiel über Dauerarbeitslosigkeit) desintegriert sind, welche Werte sollen sie ihren Kindern vermitteln? Hier muss man meines Erachtens sehr wohl auf Seiten des Staates (Sozial-, Bildungs-, Beschäftigungs-, etc. -politik ansetzen.

     

    Gruß Ronsen

  • EN
    el nino del mundo

    Ebenfalls Danke für die klare Hintergrundrecherche und Einordnung.

     

    Um auf den Kommentar von Thomas zu antworten:

     

    Neulich saß ich in einem "sozial schwachen" Viertel einer eher kleinen, deutschen, Provinz-Großstadt. Ich war zu Gast bei einem alten Jugendfreund. Hauptschuldabschluß, Maler-Lehre abgebrochen, seit mehr als 13 Jahren psychisch "nicht für den arbeitsmarkt geeignet" (mit amtlichem Siegel). Mit mir waren etwas fünf bis sechs junge Männer im Alter von etwa 25 bis 35 Jahren anwesend, deren Hintergründe von Migration bis "Viking-Jugend" reichten. Ich baute gerade einen Joint, während drei der Jungs hinter mir etwas Haschisch mit Tabak vermengten um es in einem "Eimer" - einer mit Hilfe eines Putzeimers zur Wasserpfeife umfunktionierten Plastikflasche, zu rauchen. Aus den Boxen dröhnte abwechselnd harter amerikanischer Rap, deutscher, obszöner Sprechgesang - aber auch auszugweise mal Straßenpunk oder belächelte Nazi-Schlager. Da betrat ein etwa fünf Jähriger Junge im Schlafanzug den Raum - der Sohn aus der Nachbarwohnung. Wie man mir später, bei einer 2-Literflasche Bier erklärt: gezeugt auf einer Gruppensexparty. Wegen des vielen Kokains damals ist sich der "Vater" nicht mehr so sicher ob er mit dem Zeugungsakt überhaupt etwas zu tun hatte.

    Der Kleine setzt sich wie selbstverständlich zwischen die Kiffer auf einen Sessel, nimmt ein Playstation-Pad zur Hand und versinkt in der digitalen Welt. Sein "Vater" öffnet die Flasche Bier - und redet über seinen Sohn. Zurückgeblieben sei er, nicht ganz da. Keiner der Anwesenden hat bisher mit dem Kind gesprochen und im Laufe des Nachmittags wird der junge mit Ausnahme vom Gastgeber, der ihn fragt, was er auf der Konsole spielen, auch nicht angesprochen und wenn er etwas vor sich hin murmelt, entweder ignoriert oder zurecht gewiesen.Er spricht undeutlich, unsicher und dennoch wird aus den wenigen Sätzen die ich mit ihm wechsele, klar,dass das Kind absolut neugierig, aufgeschlossen und wissbegierig ist. Bei einem anderen Besuch habe ich erfahren, dass das ganze Leben des Jungen bisher so abgelaufen ist. sein Tag besteht aus einer Kette von Anweisungen und drogen gestütztem Desinteresse der Eltern.

     

    Möchten Sie sich jetzt vorstellen, welche Rolle sein Elternhaus in seinem Leben spielen wird - und wie er die Rolle der Schule in Rund einem Jahr wahrnehmen wird, wenn er zum ersten mal in die Situation kommt, dass jemand ganze Sätze, eine klare Aussage und Entscheidung von ihm erwartet? Von dem Jungen, der mit fünf immernoch spricht, als ob er es gerade erst gelernt hat?

     

    Ihm wird kein Jugendamt, kein(e) SozialarbeiterIn, keine Pflegeeltern und kein Lehrer, den Moment an seinem ersten Schultag abnehmen, an dem der Junge feststellt, dass ihm in seinem kurzen Leben schon verdammt viel vorenthalten und dafür um so mehr zugemutet wurde.

    Ich würde mir wünschen, hier einen Einzelfall zu schildern - es wäre traurig genug. Nur wer mit offenen Augen durch unser Land geht, wird meinen Wunsch eine wohl Heuchelei nennen müssen..

  • GB
    Gesetzestreuer Bürger

    Hier wird wieder einmal das Opfer nur als "Familienvater" beschrieben. Das ist eine gezielte Emotionalisierung zugunsten des Opfers. Es ist immer noch nicht geklärt, ob der Getötete zuerst einen Schuss auf die Polizei abgegeben hat - hingegen ist aber geklärt, daß er eine Waffe bei sich führte. Außerdem war er mutmaßlich Drogendealer und Gangmitglied. Würde man das so schreiben, das Mitleid für den Getöteten (und seine Familie) würde wohl deutlich geringer ausfallen. Vielleicht sollte man einfach nur von einem "Mann" schreiben, ohne Eigenschaften anzufügen?

  • I
    Interpretator

    Die Erklärung scheint sinnvoll, aber ich denke daran, dass in Deutschland viel getan wird, um gewaltbereiten Jugendlichen eine Alternative zu bieten, dass ein ausgeprägtes Sozial- und Kümmersystem sowie der Versuch der Anerkennung durch Lernen, Fleiß usw. trotzdem nicht verhindert, dass Gewaltexzesse massenhaft auftreten, die sich selbst legitimieren. Und dabei ist die deutsche Polizei mit der englischen nicht zu vergleichen, die strukturelle Desintegration ist geringer ausgeprägt als in England, die Eliten sind auch nicht so arrogant und selbstverliebt... Ich denke, es gibt da noch einen Faktor X.

  • T
    Thomas

    Das Essay liest sich gut und spricht sicher auch wichtige Aspekte an. Auf der andern Seite aber vermisse ich: welche Rolle spielen Elternhaus und Schule bei der Vermittlung von Werten. Ich finde es grundsätzlich falsch, immer und überall NUR und ausschließlich den "Staat" in die Pflicht nehmen zu wollen.

    In gewisser Hinsicht spiegelt "der Staat" in Aufbau und Selbstverständnis die Gesellschaft wider.