Es müssen nicht immer Stufen sein

■ Rollstuhlfahrerin verklagt das Land Berlin auf einen behindertengerechten Zugang zum Heimatmuseum Wedding/ Ohne den findigen Richter wäre es nicht zur Verhandlung bekommen

Wedding. Als das Weddinger Heimatmuseum 1989 eine Ausstellung über die Arbeiterbewegung während der NS-Zeit machte, beschloß Beate Ender, Katechetin im Ruhestand, »den Spuren meiner Prägung« nachzugehen. Ihr Großvater, ein Möbeltischler, war im Dritten Reich illegales Mitglied der KPD. Der Versuch seiner Enkelin, mehr über diese Zeit zu erfahren, endete vor der Treppe des Museums. Dieses war gerade erst umgebaut worden, doch einen Eingang für Rollstuhlfahrer hatte man sich gespart. Beate Ender, seit ihrer Geburt gehbehindert, verklagte das Land Berlin auf den Einbau eines behindertengerechten Aufzugs, was am Mittwoch zu einer denkwürdigen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht führte. Der Vorsitzender Richter zeigte, wie Richter auch ohne Gesetz verhandeln können — wenn sie nur wollten.

Der Paragraph 51 der Berliner Bauordnung (BauO) verpflichtet das Land, dafür zu sorgen, daß öffentliche und private Gebäude von Behinderten »ohne fremde Hilfe« genutzt werden können. Diese Verpflichtung begründet jedoch keinen einklagbaren Rechtsanspruch für Behinderte. Daß somit die Klage von Beate Ender mangels Klagebefugnis kaum Erfolgsaussichten hatte, hinderte am Mittwoch den Vorsitzenden Richter der 19. Kammer des Verwaltungsgerichts, von Hase, nicht daran, zur Sache zu kommen.

Vormittags hatte man sich zu einem Ortstermin vor dem Heimatmuseum eingefunden. Anwesend waren fünf Richter, fünf Rollstuhlfahrerinnen und — als hätten sie's geahnt — sieben Vertreter des Bezirksamtes, die heftigst mit den Kosten argumentierten. 270.000 Mark müßte das Museum für einen Fahrstuhl bezahlen. Dieses Argument ließ von Hase jedoch kalt: »Es ist nicht schön, wenn der Staat Privatleuten Dinge abverlangt, die er selbst nicht leistet«, sagte er und bewies mit langen Zitaten aus dem Behindertenbericht des Senats von 1988 (»Berlin ist eine behindertengerechte Stadt« ...usw.) eine erstaunliche Entschlossenheit, politische Willensbekundungen ernst zu nehmen. Als die Bezirksvertreter einwandten, der Landeskonservator habe den Einbau eines Aufzuges aus Gründen des Denkmalschutzes untersagt, wollte sich das Gericht selbst ein Bild machen und schritt die Treppe hoch zum Museum. Die Behinderten warteten unten im Hof.

Nachmittags im Verwaltungsgericht stellte sich überraschend heraus, daß der Einbau einer »Schrägaufzugsanlage« im hinteren Treppenhaus, das auch als Fluchtweg dient, erstens technisch machbar wäre, zweitens vom Landeskonservator genehmigt und drittens nur 42.000 Mark kosten würde. Eine Schrägaufzugsanlage ist eine Art Förderband auf den Stufen, was es dem Rollstuhlfahrer ermöglicht, die Treppen hochzurollen.

Die Bezirksvertreter hätten jetzt sagen können: »Es ist uns wurscht, ob das möglich ist oder nicht, es ist auf jeden Fall zu teuer. Die Klägerin hat keine Klagebefugnis und damit ist die Klage abzuweisen.« Aber dabei wären sie sich wahrscheinlich unmoralisch vorgekommen. Also wand man sich um Zentimeter: Durch das Förderband reduziere sich die Breite der Treppe von 1,50 auf 1,30 Meter. Die Leute vom Bezirk bezweifelten, daß die polizeilich vertretbar sei. Als die Frage im Raum stand, ob Behinderte auch dann am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen, wenn sie den Fluchtweg Nichtbehinderter verengen, verwies von Hase auf den Paragraphen 31 V BauO. Danach muß eine Treppe nur einen Meter breit sein. Angenommen aber, ein Rollstuhlfahrer rolle gerade hoch, wenn ein Brand ausbreche, gab Bezirksrechtsvertreter Herbert Lompe zu bedenken. Da ständen sie dann, der Behinderte und der Nichtbehinderte, und behinderten sich gegenseitig. Richter von Hase wies dieses Argument mit freundlichen Worten als blödsinnig zurück.

Die Bezirksvertreter gaben nicht auf und sorgten sich weiter. Einbauten in Treppenhäuser seien doch verboten. Von Hase steigerte lässig seine Fähigkeit zum sanften Druck: Möglicherweise habe so ein Schrägaufzug nicht den behindernden Charakter eines Blumentopfes, sondern sei vielmehr Teil der Treppe und das Hinauffahren dem Hinaufsteigen gleichzusetzen.

Lompe interessierten inzwischen nicht mehr die Fluchtwege, sondern der Prozeßausgang. Er zog sein As aus dem Ärmel: ein Schreiben des Bausenators, in welchem die Behinderung des Fluchtweges untersagt sei. »Zur Beachtung« stehe auf dem Papier. Dies könne nur als Weisung verstanden werden und leider, leider sei man da machtlos. Von Hase beugte sich stirnrunzelnd über das ominöse Papier und entschloß sich dann, kleinlich zu werden: Die Begründung der Senatsweisung lasse nicht erkennen, daß dem Verfasser die entscheidenden Tatsachen — Treppenbreite von 1,50 minus 20 Zentimeter Aufzug mache 1,30 und entspreche damit der Vorschrift des Paragraphen 31 — bekannt gewesen seien.

Mit Mann und Maus von der Bauordnung geschlagen, stimmte der Bezirk erschöpft einer Verpflichtungserklärung zu: Der Bausenator wird um erneute Überprüfung gebeten. Zusätzlich wird ihm die Rechtsauffassung des Gerichts mitgeteilt, wonach der Schrägaufzug keine Verminderung des Brandschutzes bedeute. Entscheidet der Senat positiv, wird der Bezirk bis 1993/94 den Aufzug einbauen. Entscheidet der Senat sich nicht innerhalb von zwei Monaten, ergeht ein schriftliches Urteil, was bedeuten würde, daß Beate Ender mangels Klagebefugnis den Prozeß verloren hätte. Es liegt also am Bausenator. Anja Seeliger