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Archiv-Artikel

„Es ist meine Konsequenz aus dem Holocaust“

Ehud Olmert fehle jedes Gespür für die Lage der Palästinenser, sagt die Menschenrechtsaktivistin Roni Hammermann: Durch Mauer, Checkpoints, Siedlungen und „Apartheid-Straßen“ wird ihnen ein normales Leben unmöglich gemacht

taz: Frau Hammermann, vergangenen Dezember traf sich Israels Ministerpräsident Ehud Olmert erstmals mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas und versprach ihm Erleichterungen für die Palästinenser. Welche Bedeutung hatte das Treffen?

Roni Hammermann: Das Gespräch kam eineinhalb Jahre zu spät: Zuvor hat Israel doch alles getan, um Mahmud Abbas’ Prestige auf den Nullpunkt zu bringen. Ehud Olmert fehlt es einfach an jeglicher Einfühlungsgabe für sein Gegenüber. Das hat sich auch bei seinem Treffen gezeigt, als er Abbas seinen Wangenkuss aufzwang. Er begreift nicht, welche zentrale Bedeutung die Entlassung von Gefangenen für die Palästinenser hat. Er glaubt, wenn er den Palästinensern von den 500 Millionen Dollar, die er ihnen schuldet, 100 Millionen gibt, dann würden sie ihm zujubeln. Und er glaubt, wenn er einige lächerliche Checkpoints aufzulösen verspricht, dass sich dann etwas an der Lage der Palästinenser ändern würde. Bislang konnten wir jedenfalls nicht feststellen, dass auch nur ein einziger Checkpoint entfernt wurde.

Welche Auswirkungen hat der Bau der Mauer? Ist dadurch die Zahl der Selbstmordattentate zurückgegangen?

Zuletzt gab es sehr viel weniger Selbstmordattentate – aber weniger wegen der Mauer, sondern weil zwischen Israel und der Hamas eine Art Waffenstillstand herrschte. Erstaunlicherweise hat sich die Hamas ganz strikt daran gehalten. Erst seit Israel wieder zu gezielten Tötungen in den besetzten Gebieten überging, ist dieser Waffenstillstand brüchig geworden. Man kann sich seine Feinde nicht aussuchen. Die Hamas wurde in demokratischen Wahlen gewählt, und sie muss jetzt die Verhandlungen führen: Daran führt kein Weg vorbei.

Wie steht es um den Waffenstillstand im Gaza-Streifen?

Der Waffenstillstand im Gaza-Streifen ist leider sehr fragil: Die Palästinenser halten ihn nicht ein, und Israel greift im Westjordanland hart durch. Das kann noch keine Grundlage für Verhandlungen sein.

Welche Strategie verfolgen die israelische Regierung und die Armee Ihrer Meinung nach in den besetzen Gebieten?

Die Fakten, die in den besetzten Gebieten geschaffen werden, deuten darauf hin, dass die israelische Regierung nicht das geringste Interesse an Friedensgesprächen hat. Sie hat die Bewegungsfreiheit der Palästinenser auf vielfältige Weise eingeschränkt – durch die Mauer, die verbotenen Straßen und die Checkpoints – und Westjordanland schon heute in separate Kantone aufgeteilt. Westjordanland ist von einem Netz aus Checkpoints, Siedlungen und Straßen durchzogen, die man nur als Apartheidstraßen bezeichnen kann, weil die Palästinenser darauf nicht fahren dürfen. Es scheint unmöglich, in dieser geografischen Einheit, die sich Westjordanland nennt, jemals einen lebensfähigen palästinensischen Staat gründen zu können.

Wie kam es zur Gründung Ihrer Frauenorganisation Machsom Watch?

Als Ende 2000 die zweite Intifada begann, gab es in der Zeitung einen Artikel über eine Frau, die ihr Kind an einem Checkpoint gebären musste. Das hat mich und meine Freundinnen sehr erschüttert, und wir wollten verstehen, was genau an den Checkpoints geschieht. Seitdem sind wir stark angewachsen: Anfangs waren wir 10 bis 12 Frauen, heute sind wir rund 450 im ganzen Land. Wir besuchen regelmäßig 32 Checkpoints: Das sind teils Kontrollpunkte an der Grenze zu den besetzten Gebieten, aber die meisten liegen in Westjordanland, was ja leider wenig bekannt ist. Wir beobachten, was dort während der Stoßzeiten vor sich geht; notfalls schreiten wir auch ein. Wir wollen der israelischen Bevölkerung klarmachen, was in ihrem Namen an den Checkpoints geschieht. Und wir versuchen deshalb, so viel wie möglich in den Medien aufzutreten und unsere Erfahrungen weiterzugeben: dass diese Checkpoints nicht wirklich der Sicherheit dienen – unter diesem Vorwand wurden sie ja errichtet –, sondern vielmehr der Kontrolle und der Schikane der palästinensischen Bevölkerung.

Was hat Sie persönlich dazu motiviert, sich bei Machsom Watch zu engagieren?

Das hat mit dem Holocaust zu tun – mit meinem orthodoxen Großvater aus Ungarn, der mit seinem jüngsten Sohn in Auschwitz ermordet wurde. Als er dort einen jungen Lagerinsassen aus seiner Heimatstadt traf, flehte er diesen an, alles zu tun, um am Leben zu bleiben und davon zu erzählen, was er erlebt hatte. Dieser junge Mann hat tatsächlich überlebt und dann der Familie meiner Mutter, die nach dem Krieg aus der Emigration zurückkam, Bericht erstattet. Ganz bewusst zu erfahren, was um mich herum an Unrecht geschieht – das begreife ich als Vermächtnis meines Großvaters. Ich bin davon überzeugt, dass es sehr wichtig ist, sein Herz dem Leiden anderer zu öffnen.

Wie erleben Sie die Checkpoints?

Sie machen fast jede Art, ein normales Leben zu führen, unmöglich. Jeder, der zur Arbeit, in die Schule, zum Studium, zu einem Familienbesuch oder einfach nur zum Einkaufen gehen will, muss wenigstens einen oder mehrere Checkpoints passieren. Dort kommt es immer wieder zu Reibereien zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten. Die wirtschaftliche Misere der Palästinenser wird auch dadurch verstärkt, dass sie sich in keiner Form frei bewegen können. Und es ist ein riesiges Problem, zu einem Arzt oder zu einer Klinik zu kommen. In den letzten sechs Jahren mussten mehr als 36 Frauen an einem Checkpoint gebären – weil die Soldaten nicht geglaubt haben, dass sie Wehen hatten, oder weil der Checkpoint aus irgendwelchen Gründen total abgeriegelt war. 60 Prozent der Kinder sind gestorben. Dieses ständige Warten am Checkpoint hat schwerwiegende Auswirkungen: auf das allgemeine Bildungsniveau, denn häufig fällt der Unterricht aus, weil Kinder oder Lehrer nicht in die Schule kommen. Aber auch auf die Psychologie der Palästinenser. Die vielen Erniedrigungen, die sie erleben müssen, bringen die Menschen dazu, sich zu radikalisieren. Denn dieses Warten am Checkpoint ist inzwischen zu der prägenden palästinensischen Erfahrung geworden.

Wie machen Sie die israelische Bevölkerung auf das Problem aufmerksam? Betreiben Sie Öffentlichkeitsarbeit, gehen Sie an die Schulen?

Wir würden sehr gerne an die Schulen gehen, aber wir werden dort nicht zugelassen – ganz im Gegensatz zum Militär übrigens. Das wäre wahrscheinlich das Allerwichtigste. Was wir zu sagen haben, ist etwas sehr Einfaches und Monotones: Nur durch Dialog und die Bereitschaft zum Kompromiss wird sich etwas ändern. Solange Israel die Besatzung aufrechterhält und einseitig die Regeln festsetzt, wird alles so weitergehen und immer schlimmer werden.

Was sollte Europa oder die Bundesrepublik tun?

Ich glaube, dass die EU mehr Druck auf Israel ausüben sollte, damit es sich an die Menschenrechtskonvention hält. Man sollte sich nicht davon einschüchtern lassen, dass Israel diejenigen, die Kritik üben, als Antisemiten bezeichnet. Im Gegenteil: Ich kann mir nicht vorstellen, dass man gegen Antisemitismus kämpfen und zugleich die Unterdrückung eines anderen Volkes bejahen kann.

INTERVIEW: MARTIN FORBERG