: „Es ist mehr Ohnmacht als Angst“
■ Die Initiative „Patenschaften für den Frieden“ aus Berlin-Hellersdorf hat bosnische Schülerinnen in die BRD eingeladen
taz: Ihr macht Ferien vom Krieg. Wie geht das?
Angela: Gut geht's.
Emina: Hier fällt nichts vom Himmel. Ich hab seit zwei Tagen nicht mehr an Granaten gedacht, das ist eine riesige Erholung.
Angela: Doch wenn es irgendwo knallt, schmeißen wir uns sofort auf den Boden – bis wir begreifen, daß wir nicht beschossen werden.
Würdet ihr als Kriegsflüchtlinge in der BRD leben wollen?
Lejla, Elvira: Bloß nicht.
Emina: Flüchtling zu sein ist eine schreckliche Sache. Am besten lebt man immer noch zu Hause. Die Bosnier in Deutschland bleiben Flüchtlinge, auch wenn es ihnen hier angeblich gut geht. Sie haben keinen Status als normale Bürger.
Angela: Es ist schön hier, es ist Erholung, wir fühlen uns wie Touristen. Aber als Flüchtling möchte ich hier nicht leben.
Elvira: Alle Bosnier wollen wieder zurück. Allerdings glaube ich, daß sie nicht wissen, was sie erwartet. Wir sind drei Jahre im Krieg, sie haben im Frieden gelebt. Sie haben keine Vorstellung von den Verhältnissen zu Haus.
Was hat euch der Krieg weggenommen?
Angela: Unser normales Leben.
Elvira: Hier in Deutschland denken alle, es gäbe keine Geschäfte mehr in Tuzla oder keine Klamotten zum Einkaufen. Doch davon gibt es noch immer genug. Nur haben wir kein Geld, um die Sachen zu kaufen.
Angela:Das Schlimmste ist, daß wir kaum raus können. Und wenn wir mal weggehen, müssen wir um zehn wieder zu Hause sein. Immer müssen wir uns irgendwo verstecken, Deckung suchen. Wir sehen, wie die Menschen um uns herum verfallen und können nichts dagegen tun. Einige haben richtige Traumata durchlebt – das sieht man ihnen einfach an.
Emina: Man verliert den Willen zu leben, weil es ein Leben im Käfig ist. Man wartet darauf, daß sich irgend etwas ereignet, weiß aber gar nicht, was sich ereignen soll. Irgendwie wartet man auf den Tod. Es ist diese Unsicherheit, die einen fertig macht.
Habt ihr Freunde, die nicht mehr leben wollen?
Lejla: Viele sind sehr depressiv. Wir leben von Tag zu Tag.
Emina: Aber irgendwie überleben wir, wir schaffen es.
Angela: In diesem ganzen Chaos finden wir immer noch etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Wir haben Zeit, wir finden immer etwas, um uns zu unterhalten. Wir finden auch immer einen Platz, wohin wir uns mit unseren Freunden treffen können. An Gelegenheiten zur Liebe mangelt es nicht.
Geht ihr jeden Tag zur Schule?
Sladjana: Nein.
Emina: Manchmal gehen wir morgens hin, aber sobald eine Granate fällt, ist der Unterricht vorbei. Bei Granatenbeschuß dürfen wir gar nicht zur Schule kommen.
Elvira: Was albern ist, denn zu Hause sind wir genauso gefährdet.
Elvira: Es gibt auch Schüler, die wollen nicht zum Unterricht, und benutzen die Angriffe als Ausrede.
Sladjana Wenn am Tag vorher eine Granate gefallen ist, rufen wir uns gegenseitig an und besprechen, ob wir zur Schule gehen sollen...
Elvira: ...und sind jedes Mal froh, wenn wir unsere Freunde erreichen und wissen, daß sie noch leben.
Angela: Die meisten Schüler gehen regelmäßig zum Unterricht, wir können schließlich nicht blöd bleiben. Wir müssen unseren Weg vorbereiten, damit wir irgendwann wieder normal leben können – wenn schon nicht jetzt. Wir wollen uns bilden, Bücher lesen, Musik hören...
Was hört ihr?
Angela: Was alle jungen Leute auf der Welt hören.
Lejla: Disco, Techno, Metall, Punk – alles.
Gibt es noch Discotheken?
Emina: Eine.
Und nach der Schule?
EminaWir können ins Café gehen, aber es ist gefährlich...
Angela: Und teuer...
Emina: In diesen Cafés verlangen sie unglaublich viel Geld. Es gibt eben Leute, die am Krieg verdienen. Da treffen wir uns eben in den Parks. Ein Junge und ein Mädchen brauchen eigentlich nicht mehr als eine Bank im Park.
Habt ihr euch vor dem Krieg mit euren Freunden immer auf dem Corso getroffen?
(Im Mai 1995 richteten die bosnischen Serben auf dem Corso von Tuzla, dem Treffpunkt der Jugendlichen, ein Massaker an.)
Alle: Klar habe wir uns früher dort getroffen.
Angela: ...Aber genau dort ist doch im Mai die Granate reingeknallt und hat 72 Menschen umgebracht. Tausende waren damals auf dem Corso. Aber jetzt geht niemand mehr hin. Da liegen jetzt überall Blumen für die Toten.
Emina: Ohne Corso ist es trostlos.
Kommt ihr mit euren Eltern klar?
Angela: Das Familienleben ist noch das normalste – so weit man in so einer Situation von normal reden kann.
Versuchen Eure Eltern, euch im Haus zu halten?
Emina: Sie können uns nicht mit gutem Gewissen befehlen, drinnen zu bleiben. Sie können uns nicht zu Hause verkümmern lassen.
Seid ihr auf eurer Schule ethnisch gemischt?
Angela: Natürlich. Wir fünf hier sind es doch auch. In Tuzla haben wir immer zusammen gelebt und werden es auch weiter tun.
Lejla: Ich wußte früher gar nicht, was ich bin und es war auch nicht wichtig. Damit konnte sowieso niemand etwas anfangen.
Elvira: Inzwischen gibt es Leute, die diese Unterschiede machen. Das sind meist die älteren.
Und es gibt keine Agressionen gegen die Serben – auch nicht, wenn mal wieder eine Granate eingeschlagen hat?
Angela: Die Leute, die mit uns zusammenleben, haben sie nicht abgeschossen.
Es gibt Gerüchte, daß serbische Kundschafter in Tuzla leben.
Elvira: Schlechte Leute gibt es überall.
Angela: Man muß zwischen Serben und Tschetniks unterscheiden.
Was ist ein Tschetnik?
Elvira: Das ist der Feind!
Angela: Der bringt meine Freunde um...
Emina: ...in Tuzla sind alle ethnischen Gruppen betroffen. Die Toten vom Corso waren bosnisch, serbisch und kroatisch.
Sind die bosnischen Flüchtlinge, die nach Tuzla vertrieben wurden, auch so tolerant?
Emina: Die haben meistens in rein muslimischen Gebieten gelebt. Die können unsere Haltung vielleicht nicht verstehen und sind auch wütend darüber, daß wir anders denken. In einer Gemeinde bei Tuzla, die stark moslemisch geprägt ist, gab es deswegen mal Probleme. Da haben Flüchtlinge versucht, in eine serbische Wohnung einzudringen, weil sie von Serben vertrieben worden waren. Aber solche Zwischenfälle sind die Ausnahme.
Habt ihr Kontakt zu den Flüchtlingen?
Sladjana: Wir gehen doch mit den Kindern zur Schule.
Wie kommt ihr mit ihnen aus.
Sladjana: Im Prinzip ganz gut.
Lejla: Ich hab' früher nicht gewußt, daß es in Bosnien Menschen gibt, die in rein muslimischen Gebieten leben und so wenig zivilisiert sind. Wir in Tuzla waren total europäisch. Doch wenn jetzt von Bosnien die Rede ist, werden immer nur Bilder von diesen Flüchtlingen gezeigt. Wir sind aber nicht wie sie.
Emina: Die Flüchtlinge müssen untergebracht werden, sie brauchen Lebensmittel und Taschengeld. Das sind die Schwierigkeiten, die bewältigt werden müssen. Nicht irgendwelche ethnischen Probleme.
Die Jungs aus euren Klassen durften nicht in die Bundesrepublik kommen.
Angela: Ab 14 dürfen sie das Land nicht verlassen. Die Regierung hat Angst, daß sie im Ausland bleiben, um nicht eingezogen zu werden.
Mit 14 Jahren?
Angela: Nein, eingezogen werden sie erst mit 18. Aber schon vorher dürfen sie nicht raus.
Findet ihr das richtig?
lvira: Nein.
Emina: Aber wir müssen uns retten. Wir müssen kämpfen.
Angela: Das ist die einzige Lösung.
Würdet ihr in die Armee gehen?
Emina: Frauen sind in der Armee als Sanitäterinnen und bei anderen Hilfsdiensten.
Elvira: Ich gehe, wenn ich muß, aber nicht freiwillig. Ich will niemanden umbringen.
Angela: Doch wenn uns jemand angreift, müssen wir uns verteidigen.
Auch mit der Waffe?
Lejla, Emina: Nein.
Angela: Nur wenn wir müssen.
Wann müßtet ihr?
Elvira: Wenn die Tschetniks Tuzla überfallen würden und die Leute vertreiben wollten wie in Srebreniza – dann müßten auch wir mit der Waffe kämpfen.
Was wollt ihr nach der Schule machen?
Angela: Studieren. Mein Vater ist Arzt, ich glaub', ich will auch Medizin machen.
Emina: Ich auch.
Elvira: Jura.
Lejla: Journalismus.
Habt ihr Angst vor zu Hause?
Elvira: Nicht so richtig. Am Anfang des Krieges war meine Angst groß, jetzt ist sie irgendwie milder, eine Art Gewöhnung. Es ist mehr Ohnmacht als Angst.
Emina: Es ist ganz schön schwer, sich die Rückkehr vorzustellen. Da wird man schon im voraus depressiv. Was in Tuzla normal ist, ist eben nicht normal.
Glaubt ihr, daß der Krieg bald zu Ende geht.
Lejla, Emina, Angela: Nein.
Elvira: Dieser Krieg wird nicht so einfach vorbei sein. Stell dir vor, wie das auf uns wirkt, wenn ein europäischer Politiker sagt, er könnte noch 20 Jahre dauern. Wie das auf uns wirkt! Nach dem Krieg muß man alles erst wieder aufbauen. Und was haben wir dann vom Leben gehabt?
Das Gespräch führte Bascha Mika
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