: Es gibt immer Alternativen
betr.: „Träumen Androiden im Kino?“ von Veronika Rall, taz vom 21. 6. 02
Sie hätten sich vielleicht „Matrix“ nicht in einem Multiplexkino anschauen sollen. Es ist ganz deutlich, was dies mit Ihnen gemacht hat. Sie sind (wahrscheinlich) als Individuum reingegangen, und – hokuspokusabrakadabra – herausgekommen sind Sie als schwarz malendes, nostalgisches, mit Tränen in den Augen verzweifeltes Mitglied der uniformen zeigefingerhebenden Pessimistenklasse.
Gesellschaftskritik ist mit Sicherheit wichtig, aber wenn man selbst in das verfällt, was man kritisiert, sollte man vielleicht noch mal kurz überlegen.
Multiplex vereinheitlicht Menschen – und genau das tun Sie auch. Das Wir, das für Sie zählt und das Sie beschreiben, zählt nur für Sie und eine imaginäre Masse. Ich gehöre nicht dazu und auch keine(r) meiner Bekannten. Natürlich verändern Multiplexkinos die Wahrnehmung, den Körper etc., aber wenn Sie nicht gerade im Wald oder in der Wüste wohnen, werden Sie sich immer irgendwie anpassen müssen – oder pinkeln Sie auf den Bürgersteig? So etwas wie Ursprünglichkeit oder Authentizität gibt es nicht – das ist etwas, was Ihnen Ihr 50er-/60er-Jahre-Kino suggeriert und eingebläut hat. Anscheinend sind Sie darauf reingefallen.
Anpassen heißt nicht, seine Identität oder was auch immer zu verlieren. Zudem gibt es immer Alternativen, die schon allein deshalb vorhanden sind, gerade weil sich die Menschen nicht auf Alphas, Betas, Deltas o. ä. reduzieren lassen. Es ist nur schade, dass Leute wie Sie es immer wieder versuchen. Auch Ihre Geschlechterzuweisung, Raum gleich Frau, arbeitet dieser Schwarzweißmalerei zu.
Menschen sind keine hilflosen Opfer, die sich nicht zu wehren wissen. Damit sprechen Sie ihnen ihre Würde ab. Wenn Sie bedauern, dass es Leute gibt, die sich Soaps anschauen, zu McDonald’s gehen und Multiplexkinos besuchen, dann machen Sie bitte dieses Phänomen nicht zeitlich fest. Denn wenn Sie einmal einen Blick zurück in die Geschichte wagen, werden Sie staunend feststellen, dass schon immer „niveaulose“ Unterhaltung in der einen oder anderen Form angeboten wurde, an der man teilnehmen konnte oder nicht.
Ihre Ansprüche sind die einer realitätsfernen Intellektuellen. Sie wollen eine intellektuelle, heterogene Welt, in der die Menschen sich selbst diskutieren und gegenseitig zu Selbsterkenntnis führen. Eine Welt, in der es noch Geheimnisse aufzudecken gibt, in der man sich wehren kann und wo Gott noch nicht tot ist. Eine Welt, die überschaubar ist. Machen Sie Ihre reizüberfluteten Augen auf, denn die Wahl liegt letztendlich bei Ihnen.
ANTJE PEUKERT, Potsdam
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