: „Es gab Antisemitismus bei militanten Linken“
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar über Israel als Feind subkultureller Linksradikaler und judenfeindliche Züge in der RAF
taz: Herr Kraushaar, kam der versuchte Anschlag am 9. 11. 1969 nur von den Rändern der Bewegung – oder war das ein Impuls aus dem Zentrum?
Wolfgang Kraushaar: Die Bewegung gab es 1969 nicht mehr. Die 68er Bewegung zerfiel damals rasant in verschiedene Szenen. Wir reden hier über die linksradikale Westberliner Szene – also einen kleinen, subkulturellen Ausschnitt, keineswegs über das Ganze.
Der Anschlag war Teil des Zerfallsprozesses der Studentenbewegung …
Ja. 1969 hatte die Studentenbewegung ihren Höhepunkt überschritten. Sie war eine Antwort auf die Große Koalition gewesen. Daraus hatte sie eine Großteil ihres Schwungs bezogen. Doch nun, im Oktober 1969, regiert Willy Brandt. Das ist der Hintergrund dafür, dass radikale Teile der Bewegung überlegen, in den Untergrund zu gehen. In diesem Vakuum versucht Kunzelmann neue Ziele zu definieren und den Vietnamkrieg durch den Nahostkonflikt zu ersetzen.
„Unser Vietnam heißt Palästina …“
Genau. Für Kunzelmann sind die Bundesrepublik und Israel faschistische Staaten. Mit der Parole versucht er, ein neues Ziel für den Kampf zu formieren.
Hat er damit Erfolg?
Nein, sein Versuch bei Teach-ins Linksradikale dafür zu agitieren, scheitert vollkommen. Er isoliert sich damit – und verliert in der subkulturellen Szene die Rolle als Bewegungs-Trendsetter, die er zuvor gespielt hatte.
Es war also eine Einzeltat …
Ja – und nein. Ja, weil man keineswegs sagen kann, dass Kunzelmann & Co. ausagiert haben, was der Kern der Bewegung wollte, sich aber nicht traute. Das wäre völlig überzeichnet, dafür gibt es keine Belege. Nein, weil von der Aktion am 9. 11. eine deutliche, antisemitische Spur durch die Praxis des linken Terrorismus führt, die von Texten von Ulrike Meinhof über die Selektion jüdischer Passagiere in Entebbe 1976 bis zum Mordanschlag auf russische Juden 1991 reicht, an dem die RAF beteiligt war.
Auch die Attentäter um Kunzelmann verstanden sich 1969 als aufrechte Antifaschisten. Verstehen Sie wie man als Antifaschist am 9. November eine Bombe ins Jüdische Gemeindehaus legen kann? Können Sie diesen Widerspruch erklären?
Es wurde nicht als Widerspruch gesehen. Wenn man den Text von Ulrike Meinhof zu dem Olympia-Attentat auf israelische Sportler 1972 liest, findet man darin eine Fusion von Antifaschismus und Anitsemitismus. Sie definiert diese Morde ja als antifaschistische Tat. Wir haben es also mit einem antifaschistisch auftretenden Antisemitismus zu tun.
Seit wann existiert diese Mischung?
Ich glaube, ein wichtiges Datum war der Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967, den manche deutsche Linke für eine Selbstentlastung benutzt haben. Israel wurde danach von vielen pauschal dem imperialistischen Block zugerechnet – es galt als Täterland, und das war für einige auch im SDS offenbar eine psychische Entlastung. Der Nationalsozialismus, dieses Ungetüm der Vergangenheit, das in jede Familie hineinragte und das eben nicht zu bewältigen war, wurde in einer flachen marxistischen Terminologie entsorgt. Israel war darin nicht mehr Repräsentant der NS-Opfer sondern ein Staat der Täter. Was zuvor an latenter Aggression gegen Juden und Israel vorhanden war, konnte nach 1967 zum Ausdruck kommen – eben bis hin zu der Bombe am 9. November 1969. Dass bei militanten Linken unter dem breiten Schirm des Antifaschismus auch blanker Antisemitismus Platz hatte, mit diesem Phänomen hat sich die Linke zu wenig befasst.
Wirklich? Sie meinen „die Linke“ hat dies verdrängt?
Ignoriert trifft es eher. Bommi Baumann hat das Wesentliche über den 9. 11. 1969 ja schon 1975 in seinem Buch „Wie alles anfing“ veröffentlicht. Interessiert hat das damals niemand. Es ist langsam an der Zeit, sich mit diesem Wahrnehmungsdefizit zu befassen.
INTERVIEW: STEFAN REINECKE