Es fehlt nur der Sex-Shop

Homolulu '92 — Das schwule Treffen vom 3. bis 11. Oktober in Berlin  ■ Von Gerd Hartmann

Manchem Herren über dreißig treibt das Wort ein nostalgisches Lächeln auf die Lippen, nebst mann-igfacher Erinnerung an Initialzündungen ober- und unterhalb der Gürtellinie. Jüngere Semester assoziieren mehr den verunglückten Namen eines Cocktails in der neuen Szenebar nebenan: Homolulu. Ein schwules Eiland der Seligen war das wohl, anno 1979 in Frankfurt, wenn man den rosaroten Reminiszenzen derer glauben darf, die dabei waren. Unter nachgeborenen Mitgliedern der Community ist das legendäre Ereignis eher unbekannt.

Nach dem politisierten Aufbruch der Schwulenbewegung Anfang der Siebziger, wurde am Ende des Jahrzehnts beim ersten schwulen Großtreffen kräftig gefeiert. Neun Jahre Bewegung hatten einiges gebracht: Der Paragraph 175 war zumindest entschärft, Gruppen und Grüppchen landauf, landab entstanden, Schwulsein war bis zu einem gewissen Grad öffentlich gemacht. Grund genug für Entwürfe von einer selbstbestimmten, warmen und lustvollen Zukunft.

Die achtziger Jahre brachten das jähe Erwachen: die Aids-Krise und den Abschied von linken Blütenträumen, »den Absturz ins Neo-Biedermeier und das Scheitern vieler Vorstellungen, die auf eine Veränderung dieser Gesellschaft abzielten«, wie es der Bewegungs-Vater Andreas Meyer- Hanno formuliert. Gleichzeitig wurden die Schwulen selbstverständlich sichtbarer Bestandteil großstädtischen Lebens. Der normale junge Kurzhaar-Homo braucht zu Identitätsfindung und Wir-Gefühl heutzutage keine schwule Insel für eine Woche mehr. Eine Neuauflage von Homolulu, wie sie vom 3. bis 11. Oktober in Berlin stattfindet, muß deshalb von anderen Vorzeichen ausgehen.

Das wissen auch die Initiatoren. Für Klaus Lucas ist die Atomisierung der Bewegung das derzeitige Hauptproblem: »Es gibt keine Verknüpfungspunkte mehr, kein Forum, wo die anstehenden Dinge von einer klaren Forderung zu Paragraph 175 bis hin zum Outing diskutiert werden können.« Hauptziel von Homolulu '92 sei deshalb, »über den eigenen Tellerrand zu blicken«. Wenn die Schwulenbewegung weiterhin vereinzelt vor sich hinarbeite, würde sie bedeutungslos. Trotzdem sei das Festival kein Treffen von Schwulengruppen, sondern von Einzelpersonen.

Das gesamte Spektrum schwulen Lebens soll gezeigt werden. Die politische Stoßrichtung manifestiert sich in mehreren Dutzend Vorträgen und Diskussionsrunden zu allen relevanten Themen von Christsein bis Antidiskriminierungsgesetz. Darüber hinaus gibt es etliche Beiträge zur schwulen Geschichte in Vorbewegungszeiten. Außerdem will Homolulu '92 auch Kulturfestival und Leistungsschau sein. Den interessantesten Beitrag in diesem Bereich bietet Manfred Salzgeber. Der wohl kompetenteste schwule Filmhistoriker, Verleiher und Programm- Macher des Berlinale-Panoramas, schwingt sich zu einem in dieser Form einmaligen Unternehmen auf: In einer neunteiligen Vortragsreihe rollt er die gesamte schwul-lesbische Filmgeschichte neu auf — garniert mit diversen Filmbeispielen quer durch die Zeiten. Dies dürften Sternstunden der Historie werden. Kaum jemand kann sein fast unglaubliches Wissen so fesselnd an den Mann bringen wie Salzgeber.

Als Zusatzzuckerl werden fast alle wichtigen Dokumentarfilme über schwule und lesbische Geschichte vorgeführt. Neben den Klassikern »Before Stonewall« und »The Times of Harvey Milk« gibt es massenweise Premieren: »Changing our minds« von Oscar- Preisträger Richard Schmiechen schildert die Arbeit der Sexualwissenschaftlerin Evelyn Hooker, die nach beharrlichem Kampf erreichte, daß Homosexualität in Amerika aus der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen wurde. Von ihrer Lebenssituation in Deutschland in den vierziger und fünfziger Jahren erzählen Lesben und Schwule in »Verzaubert«. Die Anfänge der Lesbenbewegung in der DDR hat »Viel zuviel verschwiegen« zum Inhalt. Einen verstörenden Einblick in das Leben von Schwulen und Lesben in der ehemaligen Sowjetunion gibt das Video »Außenseiter«. Wütend und schnell geschnitten, zeigt »Voices from the front« den derzeitigen Stand des Kampfes um Gelder und Akzeptanz für Aids-Kranke in den USA.

Selten vorgeführte Spielfilme wie Veit Harlans Horror-Werk »Anders als du und ich« (1957) und eine Experimentalfilmnacht runden die Monsterschau ab. Natürlich ließ Salzgeber seine weltweiten Beziehungen spielen. Eine lange Liste illusterer Gäste zu den entsprechenden Filmen ist das Ergebnis.

Zur schwulen Geschichte gehört mittlerweile auch der Umgang mit dem Gedenken an die vielen an Aids Verstorbenen. Auf 250 Pflastersteinen hat der Berliner Künstler Tom Fecht die Namen von Aids-Toten eingemeißelt. Nomadisierendes Gedächtnis, »memoire nomade«, nennt er sein mobiles Denkmal, das bis zur Jahrtausendwende um die ganze Welt reisen und immer weiter ergänzt werden soll. In Berlin ist dieser »Denkraum« ab 3. Oktober vor dem Naturkundemuseum und danach im Straßenbahndepot Moabit zu sehen.

Die Auseinandersetzung mit der Trauerarbeit soll ein Schwerpunkt zum Thema Aids sein, das insgesamt mehr in den diversen Ausstellungen vorkommt als in den Vortragsreihen. Als trauriger Alltagsbestandteil schwulen Lebens wird es sowieso fast überall mit einfließen.

Theater, Tanz und Konzerte komplettieren den Kulturmarathon. Außer der Preddy Show Company, die zum letzten Mal ihr Programm »Preddycat-märchenhaft« zum besten gibt, und dem Jazzpoeten Gil Scott-Heron fehlen allerdings die Top-Acts. Die Leistungsschau ist eher Nachwuchsförderung. Das verspricht zumindest Entdeckungen. Außerdem zeigt sich daran deutlich, wie sehr schwule Künstler in der letzten Dekade Eingang in den »normalen« Kulturbetrieb gefunden haben. Die erste Garde von Georgette Dee bis zum Schmidt-Umfeld ist so präsent, daß ein Treffen wie Homolulu getrost auf sie verzichten kann.

Den Geist der Neunziger spiegelt wohl am besten die »Agor« wider, eine »Messe schwulen Lebens«, die von 7. bis 11. Oktober im Straßenbahndepot Moabit stattfindet. Das sozio-kommerzielle Konglomerat stellt ebenso profan wie eindringlich die heutige Situation dar. 24 schwule Initiativen von regionaler bis bundesweiter Bedeutung stellen ihre Infostände einträchtig neben Duftwässerverkäufern und Reisebüros auf. Die neueste Schuhmode trifft auf die »Schwule Wut e.V.«. Das einzige, was fehlt, ist ein Sex-Shop. Potentielle Interessenten zogen ihre Bewerbung wieder zurück. Schwulsein hat heutzutage sehr viel mit Konsum zu tun, deshalb ist eine solche Veranstaltung durchaus folgerichtig. Das Pariser Vorbild zum Berliner Markt praktiziert das Mischkonzept schon seit Jahren erfolgreich.

220 Homolulu-Dauerkarten zum — angesichts des Angebots berechtigten — Preis von 120 Mark sind bis jetzt verkauft. Das versetzt die Veranstalter zwar nicht in Euphorie, läßt sie aber auch nicht verzweifeln. Man rechnet mit zahlreich anreisenden Tages- und Wochenendgästen. Ob ein Mammutunternehmen mit rund hundert Veranstaltungen den Nerv einer Zeit trifft, in der die Frage, inwieweit es überhaupt noch eine schwule Identität gibt, immerhin ein Diskussionsforum wert ist, wird sich zeigen. Skepsis drängt sich auf. Es bleibt zu hoffen, daß die Massen nicht nur zu den Konsum- und Feierveranstaltungen strömen. Für ein bundesweites Vereinstreffen wäre der Aufwand zu groß. Dennoch: Politisches Bewußtsein, das über das Niveau des diesjährigen Sommerlochschlagers für und wider die Homo-Ehe hinausgeht, wäre dringend angesagt. Ereignisse wie am 13. Juni, als die Gäste einer Szenebar tatenlos sektselig zusahen, wie vor ihrer Nase zwei Schwule von Jugendlichen getickt wurden, zeigen den desolaten Zustand der Bewegung. Daß Schwulsein auch in der relativen Freiheit einer Großstadt mehr heißen kann (muß?) als Gay-Tea- Dance und schicke Unterwäsche, das bringt die Südseeinsel mit Rechtschreibfehler auf alle Fälle ins Bewußtsein.