: Erziehung im Machbarkeitswahn
Jan-Uwe Rogge, Autor des Klassikers „Kinder brauchen Grenzen“, warnt vor Fehlentwicklungen der pädagogischen Debatte. Wer, wie der frühere Internatsleiter Bernhard Bueb, Furcht und Strafe befürworte, erziehe „anpassungswillige graue Mäuse“. Die schwarze Pädagogik wirke bis heute
INTERVIEW: KAIJA KUTTER
taz: Herr Rogge, Sie haben schon 1991 „Kinder brauchen Grenzen“ geschrieben. Nun fordert Bernhard Bueb, der ehemalige Leiter des Elite-Internats Salem, in seinem Buch „Lob der Disziplin“, die Jugend brauche Strenge. Meinen Sie beide dasselbe?
Jan-Uwe Rogge: Ich hab das Buch damals nicht aus der Position eines Internatsleiters geschrieben. Ich hab versucht, ein paar Selbstverständlichkeiten aufzuschreiben, die in der Pädagogik vergessen waren, und habe mich dabei auf Autoren wie Pestalozzi und Montessori bezogen. Es ging darum, stärker in den Vordergrund zu rücken, dass Erziehung eine Frage der Haltung ist, dem Kind gegenüber und mir selber gegenüber.
Hängen geblieben ist, dass Sie Grenzen fordern.
Dass nur wenig hängen bleibt, liegt daran, dass oft nur die Titel gelesen werden. Grenzen setzen ist in der Erziehung eine Haltung. „Lob der Disziplin“ ist auch nicht nur auf „Strenge“ zu reduzieren. Es enthält eine Menge gewichtiger Aussagen. Ich wollte mit dem Buch keinen Trend setzen. Dass damals viele Bücher nachfolgten, haben wir nicht gewollt. Ich werde deshalb im nächsten Jahr eine komplett neue Fassung schreiben, in der ich die Fehlentwicklungen der Diskussion aufgreife.
Schlimmstes Beispiel?
Die „Super Nanny“. Wo Erziehung auf Technik reduziert wird und unter einem Machbarkeitswahn degeneriert. Wir müssen aber Kinder ernst nehmen und Erziehung vom Kind aus sehen. Diese Haltung fehlt in ganz vielen aktuellen Erziehungsratgebern.
Sie schrieben damals von dem Schlüssel, den man finden müsse, um Kinder zu erreichen.
Das Bild verwende ich heute noch.
Zurück zu Bueb. Muss Strenge und Strafe heute wieder sein?
Das Wort Strenge hat wie jedes Wort zwei Seiten. Was Kinder wollen, ist Klarheit und authentische Eltern. Die wollen keine Schauspieler. Ich muss sowohl meine Bedürfnisse deutlich machen als auch die des Kindes. Viele machen das anders. Die sagen, Klarheit ist, Kinder niedermachen. Es wird gemacht, wie ich es will, keine Diskussion. Das geht bis zum grauenhaften stillen Stuhl bei der „Super Nanny“. Wer Kindern mit Strafe droht, erzielt kurzfristige Erfolge. Es kommt aber nicht auf Strafe, sondern auf Konsequenz an und die bezieht Kinder mit ein, ohne dabei die elterliche Erziehungsverantwortung in Frage zu stellen.
Was ist der Nachteil an Strafe?
Strafe baut auf Anpassung auf. Man macht etwas, um lieb Kind zu sein. Nicht aus Einsicht, sondern weil die strafende Person das will. Das funktioniert nur, solange diese Person anwesend ist.
Herr Bueb sagte in der taz, es sei ein Missverständnis der letzten Jahre, dass man auf Strafe verzichten könne. Klar geregelte Strafen erzeugten keine Angst, sondern Furcht. Diese sei etwas „weniger Diffuses“ als Angst und somit „eine positive Eigenschaft“.
Furcht ist in der Tat etwas anderes als Angst. Sie ist schlimmer. Furcht baut immer auf eine bestimmte Person auf: „Warte, bis Papa nach Hause kommt.“ Wer mit Furcht erzieht, erzieht anpassungswillige graue Mäuse. Erziehung hat etwas zu tun mit Autorität. Autorität wird nicht aus Furcht anerkannt. Sie setzt Persönlichkeit voraus, mit der ich mich auseinander setzen und reiben kann. Hier unterscheide ich mich deutlich von Bueb. Wenn Pädagogik aus Furcht besteht, wird nicht erzogen, sondern gedrillt. Das heißt nicht, dass ich nicht manchmal meiner Erziehungsverantwortung nachkommen muss. Wenn ein Vierjähriger in Badehose raus in den Schnee will, muss ich sagen, du bleibst drin oder ziehst den Schneeanzug an.
Bueb ist nicht der einzige, der Strenge fordert. Warum hat das jetzt Konjunktur?
Das sind mehrere Faktoren. Da wird etwas medial inszeniert. Denken Sie an die schon zitierte „Super Nanny“. An der was so schrecklich ist? Da werden Kinder und Eltern vorgeführt, die eigentlich in eine Therapie gehören. Und es wird suggeriert, dass erziehungstechnisch alles machbar ist. Der andere Pool ist das in vieler Hinsicht fundierte „Lob der Disziplin“-Buch. Das ist glänzend vermarktet worden. Erziehung hat aber seit einigen Jahren Konjunktur, von der Zeit bis zu Bild der Frau. Das hat mit der Verunsicherung der Eltern zu tun. Und es gibt drittens das, was ich Machbarkeitswahn nenne. Da wird erklärt, man müsse nur eine gewisse Technik anwenden, dann kommt das entsprechende Produkt, nämlich das vermeintlich brave Kind, heraus.
Sie haben später ja noch ganz andere Elternratgeber geschrieben. Im Jahr 2000 zum Beispiel „Ohne Chaos geht es nicht“.
Ich wollte Mut machen zur Unvollkommenheit, die in der Erziehung da ist. Eltern sollten loslassen von den eigenen Ansprüchen, um die Kinder zu entlasten. Erziehung hat etwas zu tun mit der Kunst des Durchwurstelns. Und trotzdem ist man als Mutter oder Vater durch seine Präsenz eine haltgebende Person. Ein neuer Gedanke, den ich damals nur angedeutet habe und immer stärker empfinde, ist, Demut davor zu haben, dass bei Kindern nicht alles planbar und machbar ist. Zu sagen, Eltern dürfen Fehler machen. Das ist der Punkt, warum ich 100 Veranstaltungen im Jahr mache, die überlaufen sind. Ich habe seither auch Bücher über Altersphasen, wie Trotz und Pubertät geschrieben, damit die Eltern besser verstehen, was mit ihren Kindern geschieht.
Eigentlich erziehen viele Eltern doch ganz gut?
Die Mehrheit der Eltern macht einen verdammt guten Job. Es gibt 15 Prozent, die in einen Laissez-faire- und in einen autokratischen Erziehungsstil verfallen. Und es gibt etwa zehn Prozent, oft türkische oder russlanddeutsche Familien, wo Erziehung zur Zurichtung verkommt. Wo mit Strenge und Druck erzogen wird. Das sind die Jugendlichen, die uns zur Zeit große Sorgen machen.
Dass die Mehrheit es gut macht, ist auch ein Verdienst der 68er?
Deren Einfluss wird gerade von Konservativen wie Bueb überschätzt. Wir 68er, ich zähle mich auch dazu, haben erst mal alles radikal anders machen wollen. Alexander Sutherland Neill, der Erfinder von Summerhill, hat damals gesagt: Lasst mich mit den 68ern aus Deutschland zufrieden. Erst später, in den 70ern, hat man sich auf Reformpädagogen besonnen und freie Schulen und Kinderläden aufgebaut. Unsere heutigen Erfolge sind eine Folge dieser Rückbesinnung. Die Geschichte der Pädagogik in BRD und DDR muss erst noch geschrieben werden. Auch in den 70ern und 80ern war ein Stück weit schwarze Pädagogik am Wirken. Hätte man damals schon kindorientiert erzogen, hätten die Jugendämter heute weniger zu tun.