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Erzählspiralen im Fluss

■ Entstehung einer Geschichte: Lou Yes Suzhou River verwirrt und beschwichtigt

Erst filmt er das Filmen. Dann erzählt er das Erzählen. Lou Yes zweiter Spielfilm ist die erklärt selbstbezügliche und logisch vertrackte Inszenierung der Entstehung einer Geschichte. Es beginnt mit dem alten Bild dafür, dem Fluss. Und mit der Sehnsucht nach den Geschichten, die er als Strom von Zeit und Erinnerung verspricht – aber nicht preisgibt. Ein Mann treibt mit seiner Videokamera den Suzhou River in Shanghai hinab. Wir sehen ihn nie, auch keine Kamera, sondern nur das, was er filmt, wie wir aus dem Off erfahren: die graue Wirklichkeit. Und der hüpfende Schnitt, die rauhe Optik, die unverhofften Schwenks scheinen es zu beglaubigen. Der Mann, so erzählt er, ist Wirklichkeitsfilmer von Beruf, die Flussfahrt bloß Freizeitbeschäftigung. Ein echter Medienarbeiter, der seine Werbung mit Schablonen an Hauswände sprüht: „Bezahle, und ich filme alles“.

Zum Beispiel die Show eines Nachtclubs: Eine junge Frau, Meimei (Zhou Xun), spielt im Aquarium Meerjungfrau. Unser Kameramann, der namenlos bleibt, aber aus dem Off immer weiterredet, weshalb er hier der Erzähler heißen soll, verliebt sich. Blicke, Begehren, endlich eine Geschichte? Nicht ganz. Denn der Erzähler filmt ständig weiter. Sogar die Küsse mit Meimei. Sogar das Klatschspiel, das sie mit ihm veranstaltet, als sie zu Hause im Bett auf ihm sitzt und er zum Filmen eigentlich gar keine Hand frei hat. In Robert Montgomerys Lady in the Lake (1947), dem notorischen Beispielfilm, ahmte die subjektive Kamera die Perspektive des Ich-Erzählers Phillip Marlowe nach. Hier dagegen scheint sie mit dem Erzähler-Ich fleischlich verwachsen, wird selbst imaginärer Hauptdarsteller, beobachtet das eigene Beobachten: Filmen als surreale Metapher fürs entfremdete Leben, das keine Geschichte zustande bringt.

Also denkt sich der Erzähler eine aus. Er entwirft Figuren und kommentiert seine Schritte: „Was kommt als nächstes? – Natürlich die Liebe.“ Die ganz große, die zwischen dem Motorradkurier Mardar und dem Mädchen Moudan (wieder: Zhou Xun). Und dann – natürlich: der ganz große Verrat. Moudan springt in den Fluss und verschwindet, Mardar wird sie von nun an suchen. Die Story hat die Kamera vom Wirklichkeitszwang befreit. Die Bilder kommen jetzt aus der Phantasie. Oder doch nicht? Hatte Moudan vor ihrem Sprung nicht angekündigt, sie werde als Meerjungfrau wiederkehren? Sah sie Meimei nicht verblüffend ähnlich? Tragen sie nicht dieselbe Uhr und am Schenkel dasselbe Rubbeltattoo? Wir suchen nach Indizien. Wodkaflaschen bekommen Aura. Wong Kar-Wais Dinggläubigkeit lässt grüßen. Eines Tages steht Mardar vor der Haustür des Erzählers: die Spirale der Selbstreflexion wird bodenlos, seine Geschichte hat ihn eingeholt.

Doch dann scheint sie ihn wieder zu verlassen. Die Identitäsverwirrung der beiden Frauen klärt sich auf. Keine Metaphysik à la Kieslowski und Die zwei Leben der Veronika – eher Vertigo, aber à la M. C. Escher. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich jetzt nämlich auf die Identität des Erzählers selbst. Wir kombinieren fleißig weiter: hatte ursprünglich nicht zuerst Meimei die Liebesgeschichte von Mardar und Moudan erwähnt? Wie konnte sie davon wissen? Hatte die Erzählung nicht mit dem zufällig aufgenommenen Bild eines Motorradfahrers begonnen? Wer erzählt hier eigentlich, und was?

Das Ende beschwichtigt und suggeriert eine selbstbewusste Absage des Lebens an die Erzählmus-ter. Und gerade so bringt Regisseur Lou Ye, der Erzähler hinter dem Erzähler, der übrigens auch dessen Stimme spricht, seine eigene Geschichte zu Ende: die von der Selbstreflexion mit Happy End. Jetzt ahnt man, warum die eingängigen Geigen des durchgängigen Soundtracks als einziges filmisches Mittel unkommentiert geblieben sind. Strahlende Schlussbilder schlucken offene Fragen. Der Fluss hat uns wieder. Jakob Hesler

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