piwik no script img

Erwartungsgeschichte

„Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen“: Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich wird heute 85 Jahre alt  ■ Von Ulrich Clewing

Die Frage nach seiner umfassenden Allgemeinbildung beantwortet Ernst H. Gombrich scherzhaft spöttelnd: „Ich lese nicht, ich schreibe.“ Er weiß, daß kaum ein Kunsthistoriker so umfassend gelesen wird wie er selbst. Die Bücher des heute 85jährigen Gombrich, der 1936 unter dem Eindruck zunehmender Angriffe auf jüdische Studenten in seiner Geburtsstadt Wien nach London emigrierte, um eine Stelle am Warburg-Institut anzutreten, erreichen regelmäßig rekordverdächtige Auflagen, und seine Abhandlungen zählen zu den Standardwerken der kunstwissenschaftlichen Literatur.

Doch auf den neuen Titel in seiner bald endlosen Publikationsliste ist er jetzt erst gekommen. Grundlage für „Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen“ sind Gespräche, die der Foucault-Biograph Didier Eribon über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren mit Gombrich in dessen Londoner Haus geführt hat.

Gombrich hat nie zu der Spezies Wissenschaftler gehört, die sich in den Elfenbeinturm ihrer Gelehrsamkeit zurückziehen. So verfaßte er Ende der dreißiger Jahre eine „Kleine Weltgeschichte für Kinder“, die erst vor kurzem neu aufgelegt wurde. Über Fachkreise hinaus schlagartig bekannt machte ihn seine kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene „Story of Art“, von der bis dato weltweit rund eine Million Exemplare verkauft wurden.

Mit diesem ursprünglich als Kunstgeschichte für Jugendliche vorgesehenen Werk empfahl sich Gombrich dem Berufungsgremium der Universität Oxford so nachhaltig, daß er, der während des Krieges noch als feindlicher Ausländer eingestuft worden war, zum „Slade Professor“ ernannt wurde. Deutlicher als durch die Berufung auf den Lehrstuhl, den einst John Ruskin innegehabt hatte, konnte damals die Wertschätzung für Gombrichs Thesen nicht ausgedrückt werden. Später erweiterte er die „Story of Art“ zu einem seiner Hauptwerke, dem Buch „Art and Illusion“.

Der vorliegende, mit biographischen Anekdoten und Verweisen auf weiterführende Literatur angereicherte Interviewband gibt in zehn Kapiteln einen Einblick in die Theorien des Universalgelehrten. Didier Eribon erweist sich als gewandter Fragesteller, der angenehm im Hintergrund bleibt und den Dialog dennoch geschickt zu lenken versteht.

Anders als die meisten seiner Fachkollegen bezog Gombrich von Anfang an Erkenntnisse aus Soziologie, Psychologie und ebenso den Naturwissenschaften in seine Forschungen mit ein. Schließlich war die sogenannte Wiener Schule seines Lehrers Julius von Schlosser angetreten, um die Kunstgeschichte zu einer exakten Wissenschaft zu machen. Das einzelne Kunstwerk wurde nicht länger als autonomes, von einem lediglich sich selbst verantwortlichen Künstlergenie geschaffenes Gebilde angesehen, sondern in seiner Abhängigkeit von technischen und gesellschaftlichen Faktoren der jeweiligen Zeit betrachtet. Den rein empirischen Ansatz hat Gombrich freilich längst relativiert: Ein Kunstwerk sei ein zu komplexer Gegenstand, um je gänzlich erklärbar zu werden.

Ein zweites wichtiges Arbeitsinstrument Gombrichs sind seit jeher die Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie. „Wir sehen nur, was wir wissen“, lautete lange Zeit sein Credo. Ein Satz, dessen Einschränkung er später fein umformulierte: „Wir sehen nur, was wir zu sehen erwarten.“ Künstler, so Gombrich, bedienten sich bestimmter, allgemeingültiger formaler Schemata, bis diese durch neue, dem Zeitgeschmack unterworfene Codes abgelöst würden. Vehement allerdings wehrt er sich gegen die Auffassung, daß dies zwangsläufig, quasi als Ausdruck des Zeitgeistes, geschehen müsse – was ihn zum großen Gegenspieler seines Kollegen Erwin Panofsky werden ließ. Ganz anders als in Panofskys kunsthistorischem Vokabular sind für Gombrich Begriffe wie Gotik, Renaissance oder Barock lediglich Hilfskonstruktionen, die im Zweifelsfall den Blick auf die Kunst eher verstellen, als sie zu erklären.

Deutlicher als in seinen bisherigen Schriften werden in den Gesprächen mit Eribon die Einflüße sichtbar, die andere Wissenschaftler auf Gombrich ausgeübt haben: die Zusammenarbeit mit den Psychologen Ernst Kris und Jérôme Bruner beispielsweise, die Thesen des Kunsttheoretikers Wolfgang Köhler oder des Sprachwissenschaftlers Roman Jakobson. Besonders hebt Gombrich den Kontakt zu Karl Popper hervor, dessen These vom menschlichen Bedürfnis nach Regelmäßigkeit er übernahm.

In einigen Punkten erweisen sich noch die späten Ausführungen Gombrichs als durchaus angreifbar, und auch dem zeitgenössischen Kunstgeschehen öffnet er sich nur zögerlich. Doch diese aus heutiger Warte eher konservativen Ansichten stehen für den Versuch, Entwicklungen aus der Distanz heraus zu betrachten und zu beurteilen. Andererseits erlaubt Gombrich durch seine liebenswürdige und bescheidene Art auch Kritik: „Ich glaube, wir können uns immer irren. Gewißheit können wir nie haben, aber wir können uns der Gewißheit annähern.“

Ernst H. Gombrich: „Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen“. Klett-Cotta 1993, 160 Seiten, geb. mit Abbildungen, 48 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen