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Erwartungen Zwei Flüchtlingsfamilien ziehen in einen prächtigen Berliner Altbau. Die Nachbarn helfen, organisieren Kitaplätze und Sprachkurse. Perfekte Startbedingungen? So einfach ist Ankommen nichtIn bester Lage

Von Antje Lang-Lendorff (Text) und Dagmar Morath (Fotos)

Es scheint alles genau richtig an diesem Sommerabend auf Carlas Terrasse. Aus dem Wohnzimmer kommt kurdische Musik, Carla hat sie extra heruntergeladen. „Das habe ich immer in Bagdad beim Autofahren gehört“, sagt Feres, ihr Nachbar. Seine Frau Alya sitzt am Tisch, der deutsche Kartoffelsalat schmeckt ihr, obwohl sie eigentlich keine Zwiebeln mag. Die beiden Jungs, zwei und fünf Jahre alt, spielen mit den Figuren aus ihren Überraschungseiern. Carla, 58, kurze Haare, Flipflops, läuft um den Grill herum: Lamm, Hühnchenspieße, Köfte, alles halal, von geschächteten Tieren. Qualm zieht die Fassade herauf. Die Pappeln im Hof rascheln im Wind, während die Sonne langsam hinter den Dächern verschwindet.

In dem prächtigen Altbauquartier mitten in der Berliner Innenstadt ließe sich ein Werbefilm drehen, dafür, wie Integration gelingen kann. Alya und Feres al-Sayed leben mit ihren zwei Kindern seit fünf Monaten hier. Cremefarbene Fassaden, gusseiserne Jugendstilzäune. Vorher teilten sie sich die Unterkunft im Kongresszentrum ICC mit 500 anderen, schliefen in einem nach oben offenen Abteil.

Die al-Sayeds hatten Glück, sie bekamen eine Wohnung. Genauso wie die Masaads, die wie sie aus dem Irak nach Deutschland geflohen sind.

Weil man befürchten muss, dass jemand den Flüchtlingen die Wohnungen nicht gönnt oder sie wegen ihres politischen Hintergrunds anfeindet, heißen die al-Sayeds und die Masaads in Wirklichkeit anders. Um sie zu schützen, taucht auch der genaue Ort nicht auf. Die Nachbarn werden nur mit Vornamen genannt. So, wie sie sich untereinander rufen.

Im Haus gegenüber der beiden Familien wohnt Wolfgang, der Anwalt, er kümmert sich fast täglich um die Flüchtlinge. Dann gibt es noch Ulrike, die Musikerin, die mit einem Lastenfahrrad im Kiez unterwegs ist und den Masaads die Schulplätze organisiert hat. Marianne ist da, Inge, die Deutsch unterrichtet, Carla natürlich. An warmen Tagen weht aus einem geöffneten Fenster Klaviermusik in den Hof. Die meisten im Viertel wählen SPD, Grüne oder Linkspartei. Sie leben eine Willkommenskultur, die über die schnelle Begeisterung auf den Bahnsteigen hinausreicht, bis weit hinein in den Alltag.

Es dürfte für Flüchtlinge in Deutschland kaum bessere Startbedingungen geben als hier. Die Familien müssten glücklich sein. Aber so einfach ist Ankommen nicht.

Im Dezember 2015 ist es beschlossen, die erste Flüchtlingsfamilie, die Masaads, soll noch vor Weihnachten einziehen. Der Eigentümer des Häuserblocks will die Wohnungen eigentlich sanieren und verkaufen, sie sollen leer bleiben. Einem befristeten Mietvertrag für die Flüchtlingsfamilien hat er aber zugestimmt.

Am vierten Advent richten die Nachbarn, rund 30 Großstadtbewohner, die ansonsten eher ihrer eigenen Wege gehen, zusammen die Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im ersten Stock ein. Jeder hat etwas übrig: Sofa, Tisch, Matratzen. Sie räumen Lebensmittel in die Küchenschränke, stellen Shampoo ins Bad, besorgen Blumen. Ulrike kocht eine Linsensuppe. Dann holen ein paar von ihnen Naima Masaad und ihre drei Kinder mit einem VW-Bus aus dem ICC.

Gemeinsam laufen sie durch die Wohnung. Sie hätten Dankbarkeit erwartet, irgendeine Art von Erleichterung, sagt eine Nachbarin später. Davon sei nichts zu merken gewesen. „Die Masaads haben sehr neu­tral reagiert.“ Vielleicht sind sie überfordert?

Abends treffen sich alle, die mitgewerkelt haben, zum Punschtrinken im Hof. Sie zünden Kerzen an, singen Weihnachtslieder. Auch die Masaads haben sie eingeladen. Das Einrichten der Wohnung habe die Nachbarschaft verändert, sagen einige. Da ist dieses warme Gefühl, das ja sehr gut zu Weihnachten passt: Sie haben Fremden die Tür geöffnet und gemeinsam etwas Sinnvolles geschafft.

Nur die Flüchtlinge fehlen. Während im Hof die Kerzen langsam runterbrennen, bleiben die Fenster im ersten Stock dunkel. Die Masaads sind weg. Zurück ins Kongresszentrum.

„Vielleicht kamen sie nicht zur Weihnachtsfeier, weil ihnen dieser Vorführeffekt peinlich war?“, sagt Carla.

„Für mich ist das ein Zeichen, wie schwierig es für sie ist, hier anzukommen“, sagt Wolfgang.

Der damalige Heimleiter im Kongresszentrum sagt, die Masaads hätten geglaubt, sowohl das ICC als auch die Wohnung nutzen zu können, aber das ging natürlich nicht.

An einem Tag im Mai bittet Naima Masaad in ihre Wohnung. Ihr zwölfjähriger Sohn freut sich über den Besuch, bringt Wasser auf einem silbernen Tablett.

Die Wände sind kahl. Blumen in bunten Töpfen sind die einzigen Farbtupfer. Die Möbel wurden umgeräumt, ansonsten sieht alles so aus wie beim Einzug. Als ob die Masaads sich die Wohnung noch nicht wirklich zu eigen gemacht hätten.

Naima trägt ein enges rosa ­T-Shirt, die aufgehellten Haare hat sie zurückgebunden. Ein kleiner Stecker glitzert an ihrem Nasenflügel. Während sie ihre Geschichte erzählt, sitzt sie aufrecht auf ihrem Stuhl.

Die Masaads sind Kurden, sie stammen aus dem Nord­irak, aus Kirkuk. Eine Zeit lang lebte Naima mit ihrem Mann in Bagdad. Sie bekam fünf Kinder, dann ging die Ehe in die Brüche. Naima ließ sich scheiden, zog mit den Kindern ins Haus ihrer Eltern. „Eine Scheidung gilt im Irak als Ehrverlust“, sagt sie. In Kirkuk lebten sie in einem kleinen Haus mit Garten, hatten eine Kuh und einen Hund. Naima schnitt Bekannten die Haare und verdiente so etwas Geld.

Bomben und Schießereien gehörten zum Alltag. Naima zeigt auf ihren zwölfjährigen Sohn. „Kinder wie er tragen im Irak eine Waffe.“ Dann kam der IS. Im September 2015 nahmen die Masaads all ihr Geld, flogen in die Türkei. Nur die älteste Tochter, die verheiratet ist, blieb in Kirkuk.

Die Überfahrt zu den griechischen Inseln kostete 3.500 Euro pro Person. 250 Menschen waren an Bord. Naimas Sohn presst die Arme an den Körper: So eng mussten sie stehen. Nach zwölf Stunden auf dem Meer erreichten sie eine Insel. „Wir wateten an Land.“ Naima legt die Hand unter ihr Kinn, um zu zeigen, wie hoch das Wasser stand.

Sie landeten in Stuttgart, wo Naimas Bruder lebt. „Zwei Tage lang habe ich nur geschlafen“, erzählt Naima. Gern wäre sie mit ihrer Familie in Stuttgart geblieben. Doch sie wurden nach Berlin umverteilt. In die Messehalle, dann ins Kongresszentrum. „Es gab Streit bei der Essensausgabe, Streit um Kleider.“ Aber die Masaads lernten andere Flüchtlinge kennen, fanden Freunde.

Kein Schlauchboot, sondern eine schnittige Jacht

Im Dezember tauchte Wolfgang auf. Und mit ihm die Chance, in eine Wohnung zu ziehen. Eine Nachbarin erinnert sich an das Abholen: Sie wussten nicht, wie sie sich begrüßen sollten. Naimas jüngster Sohn streckte als Erster die Hand aus. Die Familie stieg mit ihrem Gepäck zu den fremden Deutschen in den VW-Bus. Weil sie dem Heimleiter des Kongresszentrums vertrauten, der sagte, Wolfgang und die anderen seien in Ordnung.

„Zum Glück haben wir das gemacht“, sagt Naima heute. Denn natürlich sind die Masaads froh, eine eigene Wohnung zu haben, wo sie in Ruhe schlafen, essen, leben können.

Wenn Naima die Erleichterung darüber nicht gleich zeigen konnte, dann vielleicht auch deshalb, weil sie Zeit brauchte, um die Situation zu erfassen. Oder weil ihr gar nicht klar war, dass sie die Unterkunft maßgeblich den Nachbarn verdankte. Vielleicht war den Masaads die Wohnung auch zu ruhig. Ihre neuen Berliner Freunde blieben ja im Kongresszentrum.

Wenn man Naima danach fragt, sagt sie nur, sie habe sich zu Beginn einsam gefühlt, fremd. „Aber alles ist besser als das ICC.“ Sie genieße es, dass es in der Wohnung so friedlich sei. „Gott meint es gut mit mir. Er hat mir Wolfgang geschickt.“

Der 58-Jährige kümmert sich von allen Nachbarn am meisten um die Flüchtlinge. Im Schnitt wende er zwei Tage pro Woche für sie auf, sagt er. Er hat mit Nai­ma vor dem berüchtigten Landesamt für Gesundheit und Soziales ausgeharrt. Er organisierte Fahrräder, den Internetzugang. Als Naima operiert werden musste, begleitete er sie in die Klinik. Er sagt: „Es ist mir ein großes menschliches Bedürfnis zu helfen.“

Auf den ersten Blick wirkt Wolfgang etwas steif, unnahbar. Ein Anwalt, der gut mit Paragrafen umgehen kann. Doch dann spricht er von „Herzensverbindungen“.

„Man kann mit ihnen lachen, man kann mit ihnen weinen“, sagt er, und seine Augen werden feucht. „Ich habe viel gelernt von ihrer Unbeschwertheit und Lebensfreude.“ Ein Ausflug aufs Land fällt ihm ein. Naimas älterer Sohn spielte ihm im Auto kurdischen Rap vor. „Das war wie eine Party.“

Wolfgang ist überzeugt, dass die Flüchtlinge ein großer Gewinn sind für die deutsche Gesellschaft. Wenn man mit ihnen spreche, seien Beruf und Geld nicht so wichtig. „Das kann auch unsere Kultur weicher, herzlicher machen.“

Die zweite Familie, die in den Häuserblock einzog, wirbelte einige Denkmuster tatsächlich durcheinander. Wenn auch ganz andere.

Im Februar versammeln sich die Nachbarn wieder. Die erste Enttäuschung über das Zusammentreffen mit den Masaads ist einer vorsichtigen Annäherung gewichen. Nun schrubben die Nachbarn mit Scheuersand und Bürste den Dreck vom Li­no­leum der Wohnung unter den Masaads, der Vormieter hat sie verwahrlosen lassen.

Kurz vor dem Einzug kommen Zweifel auf. Wolfgang erfährt von Feres al-Sayeds Hintergrund, der mit seiner Familie einziehen will: Sein Vater war General in der Armee Saddam Husseins. Für den Westen verkörperte Hussein lange das Böse schlechthin.

Sind die al-Sayeds doch keine Opfer, sondern gehören zum Dunstkreis der Täter? Sippenhaft geht nicht, klar. Aber wollen die Nachbarn ausgerechnet diesen Leuten helfen?

Andererseits: Seit dem Sturz Saddam Husseins werden Sunniten wie sie im Irak tatsächlich verfolgt.

Die Verantwortung für diese Entscheidung will Wolfgang nicht allein tragen. „Nachher wird mir vorgeworfen, ich hätte uns – zugespitzt gesagt – einen Hussein ins Haus geholt.“

Er bespricht sich mit einigen Nachbarn, schläft eine Nacht drüber. Dann schickt er eine E-Mail über den Verteiler. Die Familie sei „sehr sympathisch“, schreibt er und klärt auch über ihren Hintergrund auf. Er schreibt: „Ich habe mich mit ein paar Leuten beraten und ­entschieden, dass dieser Umstand nicht so bedeutsam ist, dass ich das Verfahren anhalten sollte.“

Die meisten tragen das mit. Carla sagt: „Ich bin viel herumgekommen und weiß, dass Menschen in autoritären Regimen oft keine Wahl haben.“

Beim Fest auf Carlas Terrasse steht irgendwann Feres am Grill. Der 36-Jährige nimmt die Dinge gern selbst in die Hand. Er spricht schon ein bisschen Deutsch und bleibt dabei, auch wenn es viel leichter wäre, ins Englische zu wechseln.

Im Irak war Feres Elektroingenieur. Er habe gut verdient, sagt er. Und er will auch in Berlin so bald wie möglich arbeiten. Seine Frau Alya, sie hat mal Mathematik studiert, trägt langes Haar und goldene Ohrringe, ist mit ihrem dritten Kind schwanger. Den Babybauch kann man unter ihrem lockeren Oberteil schon gut erkennen.

An die Terrasse grenzt ein weitläufiges Flachdach an. Alya breitet die Arme aus. So groß wie dieses Dach sei ihr Garten in Bagdad gewesen, sagt sie. Jeden Freitag haben sie dort gegrillt. Alya lächelt, eine schöne Erinnerung.

Feres dagegen wirkt bitter, wenn er vom alten Leben in Bagdad spricht. Zwei Geländewagen fuhren sie, wohnten auf 200 Quadratmetern in einem Haus.

Die Berliner Altbauwohnung, sie ist eine Verbesserung im Vergleich zum ICC. Das, was die al-Sayeds gewohnt sind und gern wieder hätten, ist sie nicht.

Wer unter Saddam Hussein einen höheren Posten in der Regierung oder im Sicherheitsapparat bekleidete, musste auch Mitglied der Baath-Partei sein, was meist Vorteile und Geschenke bedeutete. Ob ein Teil des Familienvermögens daher rührt? Feres verneint das. Sein Vater ging schon 1990 in den Ruhestand.

Feres sagt, er habe sich selbst nie politisch betätigt. Trotzdem lebten er und seine Familie in ständiger Angst. Im Juli 2015 drangen nachts schiitische Milizionäre in ihr Haus ein. „Sie waren bekannt dafür, alle zu ermorden“, sagt Feres. Ein befreundeter Schiit, ein einflussreicher Mann in Bagdad, rettete die Familie. Dann verließen sie das Land. So erzählt es das Paar. Feres kommen dabei die Tränen, wie oft, wenn er über den Irak spricht. Eigentlich ist es schön auf Carlas Terrasse, so friedlich. Aber all das Schlimme, das ist auch da. Man muss nur leicht daran rühren, schon kommt es hoch.

Der Ältere der beiden Söhne war vier, als die Familie in Bagdad überfallen wurde. Seitdem versteckt er sich, wann immer jemand klingelt oder an die Tür klopft.

Glücklich zu sein ist schwer, wenn man vor einem Jahr erst mit dem Tod bedroht wurde.

Die al-Sayeds flogen von Bagdad in die Türkei. Eigentlich wollten sie dort bleiben. „Aber Freunde sagten, in Deutschland ist es besser.“ Sie bezahlten einem Schlepper 10.000 Euro. Feres zeigt ein Foto von der Überfahrt auf seinem Smartphone. Kein überfülltes Schlauchboot, sondern eine schnittige Jacht mit abgedunkelten Scheiben. „Es sollte ja sicher sein für die Kinder.“ Auf dem Weg nach Deutschland schliefen sie in Zügen oder Hotels.

Feres wischt weiter auf seinem Smartphone. Er zeigt das Foto eines Baggers. Auf die Frage, ob er mit dem Bagger gearbeitet habe, schüttelt er fast empört den Kopf. Nein, er ist doch Ingenieur.

Carla klemmt sich zwei Kronkorken vor die Augen. Das sieht lustig aus, alle lachen. Die Kinder versuchen sofort, es ihr nachzumachen.

Carla war früher Polizistin, jetzt tritt sie auf privaten Feiern manchmal als Comedian auf. Sie redet schnell und gern. Und sie reist viel. „Überall rollt man mir den roten Teppich aus, nur weil ich einen deutschen Pass habe“, sagt sie. Die Flüchtlinge sollen es in Deutschland auch gut haben, findet sie. „Merkels ‚Wir schaffen das‘ – ich glaub da ja dran.“ Es müsse nur jeder seinen Beitrag dazu leisten.

Sie selbst hat keine Kinder. Seit vielen Jahren begleitet sie eine somalische Flüchtlingsfamilie. Sie sagt: „Das gibt meinem Leben Sinn.“

Carla engagiert sich, fordert aber auch etwas ein: Die Flüchlinge sollen sich Mühe geben, hier anzukommen. Als Alyas Bruder, der noch im ICC lebt, einmal sagte, Deutsch zu lernen interessiere ihn nicht, bekam Carla richtig schlechte Laune.

Manches kann sie nicht nachvollziehen: Warum läuft bei den al-Sayeds so oft der Fernseher? Warum sitzen sowohl Naima als auch Alya die meiste Zeit in der Wohnung? Warum spielen die Kinder nicht auf dem Spielplatz im Hof? Der ist doch so schön. „Die Jungen der al-Sayeds waren in Bagdad nie auf dem Spielplatz, zu gefährlich“, sagt Wolfgang.

Man könnte denken, dass sich zwei irakische Familien, die in einem Haus landen, zusammentun. Die al-Sayeds und die Masaads helfen sich, wenn es nötig ist. Feres hat Naima die Gardinenstange montiert. Die größeren Masaad-Kinder schauen auch mal nach den Kleinen von den al-Sayeds. Aber viel wissen sie nicht voneinander. Dabei hätten sie einiges gemeinsam: Beide Familien sind Sunniten. Beide sagen, dass Saddam Hussein schrecklich war, aber zumindest habe es unter ihm Ordnung im Land gegeben.

Ob sie schon mal über Politik geredet haben? Feres winkt ab. „Das wollen wir hinter uns lassen.“

Vielleicht liegt das daran, dass sie zu unterschiedlichen Mi­lieus gehören. Oder dass Naima alleinerziehend ist. Naima sagt, sie meide Araber grundsätzlich, weil die sie „schlecht ansehen.“ Die Deutschen liebe sie, weil sie ihr gezeigt hätten, dass Frauen Rechte haben. Auch die al-Sayeds versuchen, Irakern aus dem Weg zu gehen. Aus Angst, man könnte sie auch hier wegen ihrer familiären Nähe zu Saddam Hussein bedrohen.

Nur weil man aus demselben Land geflohen ist, muss man sich noch lange nicht anfreunden.

Enttäuschte Erwartungen „Vielleicht kamen sie nicht zur Weihnachtsfeier, weil ihnen dieser Vorführ­effekt peinlich war?“Carla, eine Nachbarin

Nach dem Einzug der Masaads und auch nach dem der al-­Sayeds verschwanden viele der Nachbarn bald wieder in ihrem eigenen Alltag.

Aber bei denen, die die Familien öfter trafen, so wie Carla und Wolfang, passierte etwas: Je besser sie Feres, Alya, Naima und die Kinder kennenlernten, desto mehr verblassten neben deren Gesichtern und Geschichten die Klischees von Flüchtlingen.

Noch ist über die Asylanträge der Familien nicht entschieden. Die Mietverträge der beiden Familien laufen noch bis März 2017, dann müssen sie wohl ausziehen. Die Lage ist begehrt, hier eine Wohnung zu finden, dürfte schwierig sein.

Wie Flüchtlinge wohnen

Wo: Es gibt vier Typen der Unterbringung für Asylsuchende. In der Erstaufnahmeeinrichtung verbringen Flüchtlinge bis zu sechs Monate. Dann kommen sie entweder in einer Gemeinschaftsunterkunft oder, viel seltener, in einer Wohnung unter. Für besonders schutzbedürftige Gruppen gibt es außerdem spe­zielle Heime.

Wie: Nicht alle Bundesländer haben Mindeststandards für Gemeinschaftsunterkünfte festgelegt. Die Zustände dort sind oft katastrophal. Enge und mangelnde gesundheitliche Versorgung erzeugen laut einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung „massive psychosoziale Belastung“.

Was tun: Wer eine Wohnung oder ein Zimmer an Flüchtlinge vermieten will, wendet sich am besten ans örtliche Sozialamt. Oder an „Flüchtlinge willkommen“, eine Initiative, die Asyl­suchende an WGs vermittelt.

Man kann sich auch gegen Deutschland entscheiden

„Es liegt an den Familien, die Zeit bei uns gut zu nutzen, sich zu orientieren, die Sprache zu lernen, so dass sie danach selbst den nächsten Schritt machen können“, sagt Wolfgang. Bei den al-Sayeds scheint das zu klappen. Sie gehen allein zum Arzt, besuchen den Zoo. Gut möglich, dass Feres über ein Praktikum früher oder später auch einen Job findet.

Sorgen macht Wolfgang sich um Naima. „Sie genießt es, getragen zu werden. Darauf darf sie sich aber nicht dauerhaft verlassen.“

Opfer oder Täter „Nachher wird mir vorgeworfen, ich hätte uns – zugespitzt gesagt – ­einen Hussein ins Haus geholt“Wolfgang, ein Nachbar

Er will in Zukunft ein bisschen mehr Abstand wahren, nicht mehr alles für sie organisieren. „Wir haben die Anmeldung für den Deutschkurs zusammen ausgefüllt. Wenn sie sie nicht hinbringt, dann ist sie selbst schuld.“

Naima sagt, sie wolle in Berlin als Friseurin arbeiten. Wie ernst es ihr damit ist, hängt auch von ihren Kindern ab: Die älteste Tochter ist in Kirkuk geblieben, der älteste Sohn nach der Flucht wieder dorthin zurückgegangen. Auch der Sechzehnjährige ist in Berlin unglücklich und will zurück zu seinen Freunden.

Wenn drei von fünf Kindern irgendwann wieder im Irak leben, wo gehört Naima dann hin? Wiegt die Sicherheit, die sie in Deutschland findet, diese Trennung auf?

Naima sehnt sich danach, statt in einer Wohnung wieder in einem Häuschen mit Garten zu wohnen. Man kann sehr gute Startbedingungen für ein Leben in Deutschland haben und sich am Ende trotzdem dagegen entscheiden.

Für die al-Sayeds gibt es kein Zurück, zu gefährlich wäre es für sie in Bagdad. Sie müssen etwas Neues aufbauen. Im Herbst kommt ihr dritter Sohn auf die Welt. Er wird den Irak – vorerst zumindest – nur aus Geschichten kennen.

Beim Grillfest auf Carlas Terrasse deutet der jüngere Sohn der al-Sayeds nach oben in die Luft. „Flugzeug“, sagt Carla. Der Bruder, fünf Jahre alt, legt seine Hände aufeinander und formt mit ihnen eine Pistole. „Tak, tak, tak“, schießt er das Flugzeug ab.

Antje Lang-Lendorff, 38, ist Redakteurin im taz-Berlin-Teil. Sie hat öfter im Ausland gelebt, aber immer freiwillig

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