ErstwählerInnen: Nicht ihre Welt

Nur jeder zweite potenzielle Erstwähler nutzt die Chance zur Mitbestimmung auch. Vor allem sozial Marginalisierte wählten nicht, sagt ein Fachmann.

Etwa jedeR fünfte ErstwählerIn in Berlin hat einen Migrationshintergrund Foto: DPA

Nein, wählen gehe er nicht, sagt Ümit (Name geändert). Dabei interessiert sich der 20-jährige Berliner durchaus für Politik. Aber Parteien, Wahlen – das interessierte ihn nicht so sehr, sagt der Sohn türkischer Einwanderer: „Das ist nicht meine Welt.“

125.204 der rund 2,7 Millionen BerlinerInnen, die am Sonntag ein neues Abgeordnetenhaus wählen dürfen, sind zum ersten Mal zur Stimmabgabe aufgerufen – jedenfalls auf Landesebene. Knapp 23.000 der Berliner ErstwählerInnen zwischen 18 und 23 Jahren sind Deutsche mit Migrationshintergrund.

Ob sie aber auch wählen, ist eine andere Frage. Denn die Wahlbeteiligung ist gerade bei NeuwählerInnen – nicht nur in Berlin, sondern auch auf Bundesebene – die niedrigste aller Altersgruppen. Nur 51 Prozent der absoluten ErstwählerInnen im Alter von damals 18 bis 20 Jahren beteiligten sich an der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2011. Im Osten der Stadt waren es lediglich 44,8 Prozent. Im Schnitt beteiligen sich 60 Prozent der wahlberechtigten BerlinerInnen an den in der Hauptstadt regulär alle fünf Jahre stattfindenden Abstimmungen – wobei der Anteil mit dem Alter steigt.

Dabei sei der Hintergrund niedriger Wahlbeteiligung der JungwählerInnen keineswegs das der Jugend gern attestierte grundsätzliche „politische Desinteresse“, sagt der Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, Thomas Gill: „Im Gegenteil, sie wissen viel!“ Dazu gehöre auch die Erkenntnis, dass Politik an ihnen vorbei gemacht werde: „Sie erleben Politik als etwas, das sich in einer abgehobene Sphäre abspielt, das sie nicht meint und nicht braucht“: Es ist nicht ihre Welt.

Klassische Milieus, aus denen Politik und Parteien traditionell ihre WählerInnen, aber auch Mitglieder rekrutierten, würden „in der sich globalisierenden und diversifizierenden Welt“ und mit zunehmender Individualisierung zerfallen, so Gill: Neue bildeten sich zwar, ihnen fehle aber noch die politische Einbindung.

Dazu gehören auch Einwanderer und ihre Kinder. Der Eindruck, dass sie noch seltener von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten, sei aber „eine kulturelle Überformung einer sozialen Ursache“, so der Leiter der Landeszentrale: „Es sind die sozial Marginalisierten, die seltener wählen gehen.“ „Enttäuschungserfahrungen“ förderten das Gefühl, bei der Mitbestimmung nicht gefragt zu sein. Mit dem Bildungsabschluss dagegen steige die Wahlbeteiligung. Ümit mit Abitur und Ausbildung, Vater selbstständig, Mutter leitende Angestellte, ist damit kein typischer Nichtwähler – trotz Migrationshintergrund.

„Erhebliche Anstrengungen“ hält Thomas Gill für nötig, um die jungen Nichtwählerinnen „dazu einzuladen, wieder mitzumachen“. Die der Senatsverwaltung für Bildung und Jugend unterstehende Landeszentrale hat vor dieser Berlinwahl mit gut 90.000 Euro fast dreimal mehr finanzielle Mittel für entsprechende Projekte eingesetzt als 2011. Insgesamt hat die Senatsbildungsverwaltung Projekte zur Förderung der Wahlbeteiligung von JungwählerInnen 2016 mit gut 750.000 Euro gefördert, ebenfalls fast dreimal so viel wie bei der Wahl zuvor. Und auch die Initiative Juma („Jung, muslimisch, aktiv“) ruft mit der Kampagne „Gönn Dir 1 Stimme“ junge Musliminnen zur Wahl auf.

Über solche MultiplikatorInnen neue Milieus zu erreichen, darin sieht Gill eine Chance, junge Leute wieder in Politik einzubeziehen. Dass Schule, die sich nicht nur in Berlin Demokratieerziehung als obersten Auftrag ins Gesetz geschrieben hat, dies nicht mehr ausreichend leiste, sei Folge „kleiner werdender Freiräume“ zur Umsetzung dieses selbst gesteckten Ziels: „Fächer wie Geschichte und Politik werden eingedampft zugunsten von Mathe und Naturwissenschaften“, so Gill.

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