Erster "Boys Day" in Deutschland: Boys will be Girls
Es ist Boys Day: Jungen erhalten Einblick in typische Frauenberufe, in Altenheimen, Kitas und Bäckereien. Der Andrang ist groß. Wird der Tag etwas ändern?
David, 12, drückt zackig auf der Fernbedienung herum. Mit einem Ruck schießt das Bett, das mit dem Kabel verbunden ist, in die Höhe. Dustin, 13, kichert. Eigentlich sollen die beiden Jungs lernen, wie man ein Krankenbett verstellt, wenn jemand darin liegt, der alt ist und Schmerzen hat. Aber "Pflege und so, das ist nichts für uns", sagen sie.
Die beiden Jungs stehen in einem Unterrichtsraum der Gesellschaft für Pflegeberufe in Marzahn-Hellersdorf in Berlin, einer Fachschule für Pflege-, Heilerziehungsberufe und Altenpflege. Der Blick aus dem Fenster fällt auf hohe Neubauten und Industriebrachen. Im Nebenraum rühren sechs andere Jungs in einem Topf Tomatensauce zusammen. Altenpfleger und Sozialassistenten müssen auch kochen können.
David, Dustin und die anderen gehen in die 7. Klasse der 2. Gemeinschaftsschule im Bezirk. Gerhard Martinka hat sie hierhergebracht, an einem ganz normalen Schultag. Der grauhaarige Mann ist Projektleiter bei Dissens, einem Verein, der seit vier Jahren Jungen in die Pflegefachschule schickt. "Sie sollen typische Frauenberufe kennenlernen", sagt Martinka: "Vielleicht wollen sie ja später mal so was machen."
Genau das will der Boys Day erreichen, der am Mittwoch zum ersten Mal stattfand: Jungen für typische "Frauenberufe" sensibilisieren. Rund 34.000 von ihnen können ab der 5. Klasse in bundesweit 4.100 Veranstaltungen einen Schnuppertag einlegen: in Kitas, Altenheimen, in Schneidereien an der Nähmaschine und in Bäckereien als Verkäufer.
Der Boys Day ist das Pendant zum Girls Day, der seit elf Jahren im April stattfindet und Mädchen für typische Männerberufe begeistern will: in Technik, Bau, Elektronik oder Naturwissenschaften.
Männer in der Pflege werden gebraucht. In den kommenden zehn Jahren werden rund 100.000 Fachkräfte fehlen, prognostizieren Experten. Derzeit sind Männer in Pflege- und sozialen Berufen rar: Nur etwa 14 Prozent der Beschäftigten in Pflegeberufen sind männlich, in den ambulanten Diensten sind es nicht einmal 10 Prozent. Nur 2,4 Prozent der Kita-ErzieherInnen sind keine Frauen, es gibt gerade mal 1,7 Prozent Bürokaufmänner.
Der Boys Day soll helfen, das zu ändern. "Er bietet Einblicke in interessante und chancenreiche Berufe, von denen viele Jungs bislang noch gar keine richtige Vorstellungen hatten", hofft Familienministerin Kristina Schröder (CDU). Ihr Ministerium unterstützt den Tag mit 1,56 Millionen Euro. Der Andrang ist groß, die Plätze sollen ausgebucht sein.
"Haushaltsführerschein"
Dustin und David ziehen um in die Küche. Sie binden sich eine Schürze um. Gleich werden sie Spaghetti Carbonara kochen.
Der Boys Day stößt auf allgemeine Zustimmung. "In der Sorge für Kranke und Ältere sollten wir nicht auf die Kompetenzen von Männer verzichten", sagt Donata Freifrau Schenck zu Schweinsberg, Vizepräsidentin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Soziale, pädagogische und Pflegeberufe werden "an Bedeutung gewinnen", glaubt auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt: "Dafür brauchen wir männliche Fachkräfte."
Wird die der Boys Day bringen? "Der Boys Day ist ein niedrigschwelliges Angebot, das das Berufsspektrum von Jungen erweitern soll", sagt Carmen Ruffer vom Kompetenzzentrum Technik in Bielefeld. Die Einrichtung bietet bereits seit sechs Jahren in verschiedenen Städten Boys Days an. Auf der Webseite kann man nachlesen, wie Jungen den Tag erleben.
Dennis, 12, aus Kirchlengern zum Beispiel hat vor zwei Jahren einen "Haushaltsführerschein" gemacht: Fenster putzen, bügeln, waschen. "Ich fand den Tag sehr lehrreich, weil ich viele Sachen gelernt habe, die Mütter jeden Tag machen", schreibt Dennis. Alex, 14, war in einem Kindergarten. Er sei von den Kindern gefeiert worden wie ein Rockstar, schreibt er. Anderen Jungs rät er: "Nehmt euch etwas zu essen mit, denn es kann passieren, dass ihr vom Mittagessen nichts abbekommt."
Jens Krabel von der Initiative Mehr Männer in Kitas fordert, dass LehrerInnen den Boys Day "gut vor- und nachbereiten sollen": "Sonst kann der Tag auch kontraproduktiv sein."
Dustin und David essen ihre Spaghetti jetzt selbst. Den Tag in der Pflegeschule fanden sie "voll okay". Aber eigentlich interessieren sie sich doch mehr für Technik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste