: Erste Frauendemo gegen Männergewalt in Istanbul
■ Doppelte Premiere seit dem Putsch 1980: „Richtige“ Demonstration und dann auch noch eine reine Frauendemo / Lebhafte Reaktionen der Passanten
Aus Istanbul Ömer Seven
Es war eine doppelte Premiere: Unter dem Motto „Frauensolidarität gegen Männerschläge“ fand am vergangenen Sonntag in Istanbul die erste genehmigte Demonstration in der Stadt seit dem Militärputsch 1980 und die erste Frauendemonstration überhaupt statt. Rund 800 Frauen haben sich eingefunden, um durch die Wohnviertel des Istanbuler Stadtviertels Kadiköy zu ziehen. Das seit sieben Jahren demo–zwangsentwöhnte Istanbuler Volk traute seinen Augen nicht: Eine richtige Demonstration mit allem Drum und Dran, Transparenten und skandierten Parolen, und dann auch noch durchgeführt von Frauen, die alle das Motto des Marsches auf Plaketten an ihre Brust geheftet hatten. Anlaß für die ungewöhnliche Aktion war das Urteil, das ein Richter in der anatolischen Stadt Cankiri kürzlich gefällt hatte: Er hatte die Scheidungsklage einer schwangeren Frau, Mutter von drei Kindern, unter Berufung auf das alte Sprichwort abgewiesen: „Du sollst es daran nicht fehlen lassen, den Rücken der Frau zu schlagen und ihren Bauch zu befruchten.“ Am Muttertag hatte die Demonstration dann stattfinden sollen, war aber wegen eines Istanbul–Besuches von Staatspräsident Kenan Evren an diesem Tag verboten worden. Überall neugierige Männer– und Frauenblicke. Die Fenster der mehrstöckigen Apartmenthäuser werden geöffnet, alles schaut und horcht. „Schluß mit der Frauenunterdrückung“, rufen die Frauen, „Erheben wir unseren Zorn und unsere Wut“. Kaum jemand hat mit so großer Teilnahme an der Demo gerechnet, zu der noch nicht einmal per Flugblatt, sondern nur durch Kleinanzeigen in der Presse aufgerufen worden war. „Wir dachten, 200–300 Frauen würden kommen“, so eine der Veranstalterinnen gegenüber der taz, „die vielen unbekannten Gesichter hier zeigen, wie ernst das Thema ist“. Die Frauen haben ein Lied komponiert und getextet, das während der Demo gesungen wird. Zuerst schüchtern und leise, dann immer lauter und kämpferischer. Frauen, die aus den umliegenden Fenstern schauen, klatschen Beifall. Mit den recht positiven Reaktionen unter den Passanten - auch Männern - hat wohl niemand gerechnet. „Ganz recht so, die müssen auch ihre Rechte verteidigen“, erläutert mir ein Mann Mitte Vierzig. Straßenverkäufer, Kinder im Alter von acht, neun Jahren, die Simit, türkische Sesamkringel, verkaufen, mischen sich unter die Zuschauer. Selbst sie, die sonst lauthals ihre Ware anpreisen, haben die Melodie der Demonstration übernommen. Ein siebenjähriger Simitverkäufer summt die Melodie der Demonstratition mit „es gibt Frauen überall“, an sein zerlumptes Hemd hat er die Plakette „Frauensolidarität gegen Männerschläge“ geheftet. Es sind nicht die Älteren, sondern die Jugendlichen, die sich durch die Demonstration in ihrer Ehre angegriffen fühlen und spöttische Bemerkungen fallen lassen. „Schau dir die Tussis an, die haben wohl noch nie Schläge bekommen“, ruft ein Jugendlicher. „Die haben noch keine Frau, die sie schlagen können, deshalb sind sie so aggressiv“, bemerkt dazu eine Demonstrantin. Und einige junge Männer zollen einem Jugendlichen Beifall, der sich vor den Demonstrantinnen aufbaut und ostentativ seine Brust entblößt. Der Beifall gilt der symbolischen Offenbarung der Männlichkeit. „Ein richtiger Mann liebt und schlägt seine Frau“, heißt es im Volksmund. Daß die Demonstration Aufsehen erregt und so deutliche Sympathie– und Mißfallensbekundungen auslöst, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Gewalt gegen Frauen zum festen Bestandteil des Alltags auch der türkischen Frauen gehört. Nach Meinungsumfragen wird eine von vier Frauen in der Türkei von ihrem Ehemann geschlagen. Gewalt gegen Frauen sei Teil der Folter in der Gesellschaft und werde durch Religion und Staat gedeckt, sagt auch Shirin Tekeli, eine der vier Rednerinnen auf der Abschlußkundgebung. Immer wieder wird sie von Sprechchören unterbrochen: „Nun ist Schluß mit dem Schweigen!“ Der Auslöser der Demonstration, der Richter in Cankiri, ist allerdings immer noch in Amt und Würden...
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